„Klar! Das stimmt!“, Nina stieß Susi an. „Und wir zwei Angsthasen rennen wie die Verrückten.“
Beide begannen nervös zu lachen. Schließlich nahm
Nina wieder Susis Hand.
„Komm!“, sagte sie. „Irgendwo muss doch dieser Ausgang sein.“
Nachdem sie eine Weile gelaufen waren, kamen sie auch tatsächlich an eine Mauer. Eilig stiegen sie hinauf und ließen sich vorsichtig auf der anderen Seite hinunter gleiten. Erstaunt sahen sie sich um.
„Wo sind wir denn?“
Die beiden Mädchen standen auf einem schmalen Weg, der von hohen Bäumen gesäumt wurde. Nirgendwo war ein Haus zu sehen, nur ganz in der Ferne erkannten sie eine Straßenlaterne.
„Hier war ich noch nie in meinem Leben“, sagte Susi kläglich.
„Auch das noch!“ stöhnte Nina. „Wir sind auf der falschen Seite heraus gekommen. Jetzt müssen wir um den ganzen Friedhof herum laufen. Na, los! Der Weg ist weit!“
Susi antwortete nicht. Sie hatte sich am Wegrand niedergelassen und verbarg ihr Gesicht zwischen den Armen.
„Wir finden nie mehr nach Hause“, schluchzte sie. „Und meine Eltern, meine Eltern - “
Jetzt fing sie erst richtig an zu weinen. Zu allem Unglück begann es auch noch zu nieseln. Nina zog den Kaninchenkragen-Mantel aus und breitete ihn über ihre Köpfe.
In der Ferne hörten sie eine Kirchturmuhr schlagen. Zehn – Elf - Zwölf. Es musste inzwischen Mitternacht geworden sein.
Nina stand entschlossen auf.
„Komm Susi, wir haben keine Zeit. Wenn meine Eltern aufwachen und ich bin nicht in meinem Bett, erschrecken sie sich zu Tode. Du hast ja wenigstens einen Zettel geschrieben.“
„Und du nicht?“, fragte Susi erstaunt. „Du hast mich doch erst auf die Idee gebracht.“
„Na, ja“, entgegnete Nina. “Ich dachte, bevor sie wach werden, bin ich längst zurück. Deshalb, los! Wir können nicht hier rum sitzen. Wenn wir rennen, merken sie vielleicht doch nicht, dass wir weg waren.“
Susi stand zögernd auf. „Und was meinst du, wie weit wir rennen müssen? Ich kann das nicht so gut, das weißt du ja. Im Sport schaffe ich nicht mal die 800 m.“
„Im Sport!“ stöhnte Nina genervt. „Da geht es ja auch um nichts. Aber jetzt, müssen wir nach Hause. Unbedingt schnell! Nun komm endlich!“
Die Mädchen trabten also entschlossen los. Das leichte Nieseln hatte sich inzwischen zu einem kräftigen Landregen ausgewachsen. Der nasse Mantel klebte an Ninas Körper und behinderte sie bei jedem Schritt. Trotzdem war sie schneller als Susi, die lautstark hinter ihr her keuchte.
Endlich hatten sie das Ende der Friedhofsmauer erreicht, vor ihnen lag eine schnurgerade Landstraße, die Nina nur vage bekannt vorkam. Die Mädchen sahen sich an.
„Was meinst du, in welche Richtung müssen wir?“, fragte Susi mutlos und wischte sich die tropfnassen Haare aus dem Gesicht.
„Auf dieser Seite ist es heller, ich denke es geht hier nach rechts“, sagte Nina, zog ihren Mantel aus und breitete ihn erneut über den Kopf der Freundin. Inzwischen hatte sie nämlich ein entsetzlich schlechtes Gewissen. Ohne sie würde Susi jetzt in ihrem kuschligen, weichen Bett liegen und dem Morgen entgegen träumen.
Langsam setzten sie ihren Weg fort. Rennen konnten sie schon längst nicht mehr. Schritt für Schritt kämpften sie sich müde und erschöpft voran.
„Ob sie schon die Polizei gerufen haben?“, fragte Nina nach einer Weile.
„Meine Eltern bestimmt“, nickte Susi. „Hörst du das, da kommt ein Auto.“
Ein Taxi überholte die Mädchen, stoppte und setzte dann ein Stück zurück.
Ein grauhaariger Mann beugte sich aus der Fahrertür.
„Na sagt mal, wo wollt ihr denn hin, mitten in der Nacht und dann auch noch bei diesem Regen!“
Noch bevor die Mädchen antworten konnten, hatte er die Tür geöffnet und war ausgestiegen.
„Und wie seht ihr überhaupt aus? Hat euch jemand überfallen?“, fragte er besorgt.
Nina sah an sich herunter. Ihre Hose hatte einen langen Riss, an den Schuhen klebten dicke Dreckklumpen. Auch Susi sah nicht besser aus. Der Ärmel ihrer blauen Jacke hing in Fetzen herunter und die helle Hose hatte breite schmierige Schmutzflecke, die sicher vom Sturz hinter der Mauer herrührten.
„Soll ich die Polizei rufen oder möchtet ihr, dass ich euch einfach nach Hause bringe?“, fragte der freundliche Fahrer weiter.
„Bitte fahren sie uns nach Hause“, flüsterte Nina, die vor lauter Erschöpfung, Angst und schlechtem Gewissen kaum noch sprechen konnte.
„Wir haben doch gar kein Geld“, raunte Susi, die ab und zu mit ihrer Mutti Taxi fuhr und deshalb wusste, dass diese Fahrten sehr viel mehr kosteten als Bus oder Bahn zu benutzen.
„Nun steigt erst einmal ein!“, sagte der Taxifahrer, „und dann erzählt ihr mir, was passiert ist. Seid ihr einfach weggelaufen oder hat euch jemand verschleppt?“
Zögernd erzählten die beiden Mädchen von ihrem nächtlichen Ausflug auf den Friedhof. Ernst hörte der Fahrer den beiden zu, nur als Nina von ihrem kaninchenpelzbesetzten Mantel erzählte, musste er ein klein wenig lächeln. Danach griff er zu seinem Handy rief Ninas und Susis Eltern an, die halb krank vor Angst natürlich gemerkt hatten, dass ihre Kinder verschwunden waren. Sie machten sich zunächst sofort selbst auf die Suche, doch als sie vor dem verschlossenen dunklen Friedhofstor niemanden fanden, waren sie nach Hause zurückgekehrt und hatten die Polizei alarmiert.
Wie Nina von einem Geist geweckt wird und trotzdem keine Angst hat
„Geh schlafen! Wir reden morgen“, sagte ihre Mutter. Und Papa hatte sie nur angesehen, ernst und traurig. Schlimmer als jedes Schimpfen war dieser enttäuschte Blick. Und obwohl Nina todmüde war, konnte sie lange nicht einschlafen. Unruhig wälzte sie sich in ihrem Bett hin und her. Als sie schließlich doch weg dämmerte, wurde sie kurz darauf von einem seltsamen Geräusch geweckt.
Ganz deutlich hörte sie, dass sich jemand in ihrem Zimmer bewegte. Vorsichtig öffnete sie die Augen und erkannte im fahlen Licht, das durch die Ritzen der Jalousie drang, ein völlig fremdes Mädchen, das gerade dabei war, eines ihrer Kleider anzuprobieren.
„Was machst du hier?“, flüsterte Nina. Vor Schreck brachte sie nur ein heiseres Krächzen heraus.
Das Mädchen drehte sich zu ihr herum. Auch sie war erschrocken. „Schlaf weiter“, sprach sie sanft. „Ich bin nur ein Traum.“
„Von wegen Traum!“ Nina war inzwischen richtig wach und sprang aus dem Bett. „Was machst du in meinem Zimmer?“
Gerade wollte sie, die Tür öffnen, um ihre Eltern zu rufen, als etwas ganz und gar Ungewöhnliches geschah.
Das Mädchen zog sich Ninas Kleid über den Kopf und schwebte gleich darauf völlig schwerelos an die Decke.
Nina blieb der Mund offen stehen.
„Wie machst du das?“
Das Mädchen winkte ab. „Ganz einfach, ich habe dein wunderschönes Kleid ausgezogen“
„Du kannst es haben“, entgegnete Nina großzügig. „Kleider kann ich sowieso nicht leiden und das hier hat auch noch Blümchen! Furchtbar! Aber ich meine, wie kannst du schweben?“
„Wir können alle schweben“, antwortete das Mädchen, das es sich inzwischen auf dem Schrank in einer Zimmerecke bequem gemacht hatte.
Nina staunte noch immer. „Aber, wer seid