Ein stilles Dorf in Kent. Gerda M. Neumann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerda M. Neumann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783746727776
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in ihrer Tasse und legte den Löffel ab.

       »Delia hatte einen Bruder«, erinnerte sie sich weiter, »den ich nie kennengelernt habe. Er ist schwer gehbehindert und bleibt in seinem Haus in Snowdonia. Er muss ein rechter walisischer Querkopf sein. Susan ist seine Enkelin.«

       »Er kam auch nicht zu Beerdigung?«

       »Hier gab es lediglich einen Trauergottesdienst. Delia wurde eingeäschert und die Urne nach Wales zum Familiengrab verschickt. Dort werden sich wohl alle versammelt haben. Damit meine ich, dass neben der nicht sehr zahlreichen Verwandtschaft doch wohl ihre beiden Freundinnen aus London nach Wales gefahren sein werden. Aber ich weiß das nicht. In den letzten Jahren hat sie die beiden abwechselnd mehrmals im Jahr in London besucht und bei der Gelegenheit Einkäufe gemacht, Theater besucht und die Heide von Hampstead. Es muss schön gewesen sein, sie kam immer sehr heiter zurück.«

       »In den Jahren davor war das anders?«

       »In sofern, als sie und ihr Mann ein Apartment in London hatten, auch beruflich immer wieder dort waren. Wie häufig sie sich seinerzeit mit ihren Freundinnen traf, weiß ich nicht so genau.«

       »Gab es Gegenbesuche?«

       »Ja, beide waren immer mal wieder hier auf dem Lande, mit Ehemann, ohne Ehemann, sehr selten gemeinsam. Aber auch das kam vor. Ich lernte sie kennen, aber nur im Vorbeigehen, wenn wir uns halt zufällig begegneten.«

       »Demnach hielt Mrs Large ihr Leben hier in Howlethurst und in London auseinander?«

       Aphra besann sich. »Ach wissen Sie, so kann man das eigentlich nicht sagen. Sie wohnte hier. Und sie kam jeden Sonntag zum Hauptgottesdienst in die Kirche. Danach redete sie mit dem einen oder anderen, wie es sich halt ergab. Sie interessierte sich durchaus für das Leben der Menschen um sich herum, hörte aufmerksam zu, vergaß so gut wie nichts, leistete Hilfe, wenn man sie darum bat. Mancher ging zu ihr, wenn er sich aussprechen wollte. Für Probleme hatte sie immer Zeit, für einen einfachen Tee eigentlich nie. Aber das störte auch niemanden.«

       »Was machte sie, wenn sie nicht arbeitete und doch hier war?«

       »Sie hat hinter dem Haus einen großen, sehr, sehr schönen Garten…«

       Olivia lachte leise: »Natürlich! Sie sind die einzige Freundin hier am Ort gewesen, ist das so?«

       »Ja, wir waren befreundet, solange wir hier sind, kann ich fast sagen. Wie es sich damals ergeben hat, weiß ich nicht mal mehr. Es stimmte einfach…« Traurig senkte Aphra den Kopf. Olivia hielt inne und sah Roger Mottram zu, der seine kalte Zigarre sehr konzentriert zwischen Zeigefinger und Mittelfinger hin und her rollte.

       »Über Tote soll man nur Gutes reden, das Bild von Delia Large hält sich vorbildlich an diese Regel«, störte Raymund die Stille. »Ich werde mich hüten, etwas anderes zu tun. Tatsache ist andererseits, wenn wir von der These eines unnatürlichen Todes ausgehen, dass es zumindest einen Feind gegeben haben muss. Ich persönlich tippe, dass er weiblichen Geschlechts ist. Aber das ist nur eine Annahme.«

       Roger beendete das Rollen und sah ihn an: »Willst du damit sagen, dass sie für ihren Tod selbst verantwortlich ist?«

       Der alte Militärhistoriker verneinte mit einer leichten Kopfbewegung. »Wenn ich die steigende Zahl der Todesfälle auf eine vorsätzliche Ursache zurückführe«, begann er schonend, »könnte man formulieren, dass eine Person hier im Ort den anderen oder einer Gruppe von ihnen den Krieg erklärt hat. Aber selbst wenn es sich um eine Gruppe handeln sollte, hat sie für uns Außenstehende keine sichtbaren Gemeinsamkeiten außer den ungefähren Lebensjahren. Folglich können wir einstweilen nur von Zufall ausgehen. Der große Clausewitz findet nun den Zusammenhang zwischen Zufall und Krieg ganz natürlich. Des Weiteren gehört für ihn das Glück zum Krieg, oder in unserem Fall eher das Pech. Das heißt, Delia Large kann ihren Tod durchaus selbst herbeigeführt haben, aber sie wusste davon nichts.«

       Ein Schnaufen war die Antwort. »Könntest du dich etwas anschaulicher ausdrücken?«

       Raymund quittierte die Bitte mit einem angedeuteten Grinsen, war aber sofort wieder ernst: »Ich stelle mir vor, dass sie die fragliche Person in einem Gespräch nach dem Gottesdienst verärgert hat. Du könntest darüber überhaupt mal nachdenken, Aphra. Wer redet nach der Kirche mit wem, gibt es Spannungen und von wem gehen sie häufiger aus als üblich. Wir wissen, dass Delia bei allem Interesse und aller Anteilnahme zu einer gewissen Ungeduld mit Schwächen neigte. Auch mit ihren eigenen, aber das hilft dem möglicherweise nicht, der sich gerade kritisiert fühlt.«

       Mit beiden Händen auf den Lehnen saß Aphra inzwischen da und nahm Raymund und Olivia abwechselnd fest in den Blick: »Ich fürchte, dass geht so alles nicht. Was du dir da vorstellst, Raymund, kommt doch dem Ausspionieren der eigenen Gemeinde gleich. Und wenn Olivia gleichzeitig hier herumgeht und die Leute ausfragt, kommen wir in eine furchtbare Situation. Wir haben uns das alles nicht zu Ende vorgestellt, als wir hofften, durch deine Nichte unbemerkt Licht in die Zahlen zu tragen.«

       Es half nichts, Olivia musste schon wieder lachen, wurde aber umgehend wieder ernst: »Sie haben recht, so geht das nicht. Ich sehe gerade die Schlagzeile vor mir: ›Pfarrer lässt Privatdetektivin auf seine Gemeinde los‹, den Text dazu können wir uns alle vorstellen – trotzdem kann ich mich an die Arbeit machen. Schauen Sie, ich bin Übersetzerin und verdiene mir ein gutes Zubrot mit Zeitungsessays. Irgendwie gerate ich gelegentlich in die Aufklärung von Mordfällen, aber ich bin überhaupt kein Profi, also habe ich auch keinen Stallgeruch an mir. Es besteht, glaube ich, kein Grund zur Sorge.«

       »Aber es gibt Leute hier, die wissen, dass Sie schon Mordfälle aufgeklärt haben«, wandte Aphra ein, »die werden sich jetzt wundern… und wenn die zu reden beginnen…«

       Olivia ließ sich Zeit mit der Antwort. »Sagen wir, diese aufklärungsfreudige Nichte des alten Strategiehistorikers«, jetzt bedachte sie ihrerseits den Onkel mit einem Grinsen, »ist meine Cousine. Ich bin Designerin und entwerfe vor allem Strickmuster für eine afrikanische Boutique in London.«

       »Aber wir können doch nicht einfach lügen«, seufzte Roger.

       »Das brauchen Sie auch nicht, jedenfalls nicht richtig. Ich entwerfe manchmal wirklich Strickmuster und die Boutique gibt es auch. Sie liegt in St. John’s Wood.« Roger seufzte zwar erneut, gab sich aber sichtlich geschlagen.

       Raymund bediente sich noch einmal eines Clausewitz’schen Gedankenganges: »Jeder Feldherr übersieht nur seine eigene Lage. Folglich kann er sich über seinen Gegner vollkommen im Irrtum befinden. Generäle verzögern bei allzu großer Unsicherheit über die Situation des Feindes jede kriegerische Handlung. Sinnvoll ist das Prinzip des Hinhaltens aber nur, wenn man auf weitere Nachrichten hoffen kann, ansonsten entstünde aus dem Verzögern lähmende Unsicherheit, die dem Feind in die Hände spielt. Das ist in jedem Fall schlecht.«

       Rogers Antwort begann mit dem an diesem Abend gewohnheitsmäßigen Seufzen. »Und diese zu erhoffenden Nachrichten beschafft uns deine Nichte?«

       »Sie wird es versuchen.« Raymund stand auf. »Denkt über unser Gespräch nach, ihr zwei, wir bleiben in Kontakt.«

       Der nachfolgende Abschied verlief herzlich auf Raymunds Seite, besorgt, bedenklich auf der anderen, wenngleich begleitet von freundlichen Worten. Kurz darauf saßen die beiden Hauptakteure beim Wein im Wohnzimmer des alten weißen Hauses mit der zum Wintergarten geöffneten Rückwand. Marmalade hatte sich vor der elektrischen Kaminheizung zusammengerollt und ließ hin und wieder ein zufriedenes Schnurren hören. »Endlich würdigt jemand diese geschmackliche Verirrung«, stellte Raymund fest, »ich beginne zu ahnen, dass ihre Zufriedenheit meinen Widerstand untergraben könnte.«

       »In der Gefahr bist du nicht allzu oft«, konterte Olivia freundlich, »Roger hat deinen Widerstand heute Abend geradezu herausgefordert, nicht wahr?«

       »Richtig, er ist mit einem Mal ein schrecklicher Zauderer! Ich verstehe ihn ja. Aber nachdem wir uns zum Handeln entschlossen haben, sollten wir dabei bleiben. Du hast deine Zeit ja auch nicht gestohlen.«

       »Die Erwähnung des Feldherrn und seiner Generäle war nicht frei von Hintergedanken…«

       »Wieder richtig. Bei allem Antreiben darf niemals aus dem Blick kommen, dass Roger das Kommando zum Handeln gab und die