Sie waren im Reden über eine Kuppe gekommen und in einiger Entfernung sah man die ersten Häuser von Howlethurst liegen. »Schauen Sie mal«, Susan deutete mit dem Kopf leicht nach vorn, »dort taucht ein Bewohner dieses Ortes auf, der auch in Indien nicht auffallen würde.«
Sie näherten sich einander, er hielt sich genauso sorgfältig an den vorgegebenen Weg wie sie, fixierte Susan schließlich und blieb direkt vor ihr stehen. Der Mann war durchschnittlich groß, durchschnittlich breit und trug eine braune Tweedhose und eine dunkelgrüne Wetterjacke. Damit endete das Durchschnittliche abrupt. Der große Kopf wuchs ins Riesige durch eine Unmenge grauer, widerspenstiger Locken und sein Bart schien aus dem Drahthaar eines Terriers zu bestehen und bedeckte die Hälfte seiner Brust. Den Augenbrauen hatte die Natur ebenfalls ein Übermaß an Haaren zugedacht. Darunter hervor schauten wasserblaue Augen fest in Susans Gesicht. »Wieder unterwegs. Freut mich zu sehen.«
Susan antwortete mit einem Lächeln. Sie blieb stumm. Schließlich rissen seine Augen sich von ihr los und nahmen Olivia in den Blick. »Sie habe ich hier noch nicht gesehen. Besuch?« Olivia nickte schweigend. »Wir werden uns wiedersehen.« Er umrundete sie und kam hinter der Hügelkuppe zügig außer Sicht.
Olivia holte tief Luft: »Ein verkleideter Druide?«
»Wie schön, dass Sie das sagen! Vielleicht… Haben Sie seinen seltsamen Stock bemerkt? Nein? Er schwingt ihn immer in der Luft herum. Nie benutzt er ihn zum Abstützen.«
»Und?«
»Er hat auch keine Spitze, um ihn auf den Boden aufzusetzen, sondern zwei Teile, die mich an eine Zange erinnern, eine kleine Handzange an einem langen Stock.«
Zu ihrem Bedauern waren sie inzwischen auf der Hauptstraße angekommen, in einiger Entfernung lag das Kriegerdenkmal. »Er könnte die öffentlichen Anlagen dieses gepflegten Ortes reinigen und anschließend einen Spaziergang machen«, schlug Olivia vor.
Susan sah sie verwundert an. »Das wäre eine Möglichkeit…« Für den restlichen Spaziergang schwieg sie, auch wenn ihnen nur sehr vereinzelt jemand begegnete. Der Green war vollkommen leer bis auf den Postwagen, der gerade vor dem Pfarrhaus hielt. Olivia streckte ihr zum Abschied die Hand hin: »Wir werden uns bald wieder sehen?« Mit einem zustimmenden Lächeln wandte Susan sich ihrer Haustür zu.
Kapitel 6
Die große Tür zu Mrs Grahams Haus stand an diesem warmen Aprilnachmittag weit offen. Als erstes fielen Olivia die vielen schweren Sessel auf, die zahlreich und willkürlich in der Halle verteilt standen. In einem hockte ein Mädchen auf seinen Fersen, ein Buch auf dem Schoß und Finger in den Ohren, versenkt in seine Geschichte. Rechts neben der Tür stand ein ausladender geschlossener Schreibtisch, dahinter eine sympathische Frau um die Vierzig. Raymund stellte sie Olivia als Mrs Higham vor und fragte nach der Hausherrin. Olivia hörte ein helles, fast mädchenhaftes Lachen und eine kleine, zierliche Frau eilte heran.
»Mr Fisher! Oh, ich sehe, Sie haben Besuch. Wir kommen einmal ohne weiteres ohne Sie aus. Besuch ist etwas so Schönes. Noch dazu bei diesem Wetter!« Ihre hohe, leicht aufgeregte Stimme schwebte gleichsam auf der letzten Silbe und eine Pause trat ein.
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber sehen Sie, meine Nichte liebt Bücher und würde sich gern in Ruhe umschauen, während ich meinen Pflichten nachgehe. Darf ich sie Ihnen vorstellen: Viola Imbry.« Mrs Higham war hinter ihrem Schreibtisch hervorgekommen und schüttelte Olivia herzlich die Hand. Mrs Graham verhielt sich etwas förmlicher, aber ihr Willkommen war genauso herzlich gemeint. Mit behutsamer Nachhilfe von Raymund Fisher nahm sie seine Nichte Viola schließlich unter ihre Fittiche und zeigte ihr die Bücherei.
Die Eingangshalle und drei große Räume im Erdgeschoss hatten Bücherschränke bis zur Decke – fast war man versucht zu sagen, an allen vier Wänden. Doch die beiden Erker der großen Räume rechts und links der Halle waren ausgespart, in ihnen standen Sessel. Mit den Erkern im Rücken hatte man in beiden Räumen zwei deckenhohe Regale vor sich, rechts und links frei im Raum stehend, zwischen denen ein halbhohes Regal stand, über das hinweg man die gegenüberliegenden Türen sah. Die eine führte in die Wohnküche, die beiden Flügel der anderen standen offen und ließen den Blick über ein quer stehendes Regal durch die gegenüberliegenden Fenster in den Garten schweifen. Beinahe überflüssig zu erwähnen, dass die freistehenden Regale auf beiden Seiten gut gefüllte Fächer hatten.
»Das ist Wahnsinn…« Olivia blieb vor einigen Stößen Kinderbüchern stehen, die am Boden lagen.
»Allmählich wird es etwas voll«, wieder erklang dieses mädchenhafte Lachen. »Aber wenn genügend Bücher ausgeliehen sind, haben diese wieder Platz im Regal.«
»Sie sortieren keine Bücher aus?«
»Aber nein! Das wäre doch zu schade! Ich finde die gelegentlichen Stöße sehr gemütlich.«
Olivia drehte sich einmal um die eigene Achse, um zum Abschluss ihre Arme auszubreiten: »Mrs Graham, dies alles ist… wie die Welt aus einem Kinderbuch!«
»Warum gerade das?« Hell schwebte die Frage zu ihr herüber, von Verblüffung getragen.
Langsam ließ Olivia die Arme sinken und sah sich ruhig um. »Erst einmal diese Überfülle von Büchern… dann diese großzügigen Räume: Die Fenster, der Stuck rundum an der Decke… die vielen riesigen Sessel… wenn man um die hohen Regale biegt, weiß man nicht, was einen erwartet, vielleicht… zumindest in einem Buch wäre das der Fall… und noch mehr Bücherstöße… es scheint mir die ideale Voraussetzung zum Stöbern…« Sie sah die zierliche, grauhaarige Frau mit blitzenden Augen an: »Ich komme ins Schwärmen, aber irgendwie fühle ich mich, als wäre ich in einen Traum gefallen, der mir enorm gefällt!«
»Entschuldigen Sie bitte, wenn ich mich so dazwischen dränge. Habe ich gerade gehört, Sie finden unsere kleine Bücherei traumhaft?«
Olivia wirbelte herum und sah vor sich eine Frau unbestimmten Alters, mindestens einen Kopf größer als sie selber, sehr aufrecht, dadurch ein wenig an eine strenge Schulleiterin erinnernd, die sie nüchtern musterte. Mit einer leichten Kopfneigung stimmte sie zu.
»Ivy«, wandte sich die Frau an Mrs Graham, »das Kompliment bekommt man nicht alle Tage.« Und zu Olivia gewandt fuhr sie fort: »Darf ich annehmen, dass ich in Ihnen die Nichte von Mr Fisher vor mir habe? Ich hörte, dass er Besuch bekommt.« Die Frage, klar artikuliert, kühl im Ton, löste Olivias Büchertraum in die Wirklichkeit auf.
»Ja, richtig, ich bin eine Nichte von Mr Fisher.«
»Es freut mich, sie in unserer Gemeinde begrüßen zu dürfen.« Das klang förmlich, aber nicht unfreundlich. »Darf ich annehmen, dass Sie länger bleiben, da Sie sich hier so eingehend umschauen?«
Eine erneute Neigung des Kopfes bestätigte auch diese Frage.
»Bitte, darf ich Sie einander vorstellen«, Mrs Grahams helle Stimme milderte unwillkürlich die kühle Tonlage der anderen Frau, »dies ist Lady Evelyn Cardoon, sie bewohnt das Herrenhaus von Howlethurst. Ihre Familie hat es vor mehr als vierhundert Jahren gebaut – Evelyn, dies ist Viola Imbry, Mr Fishers Nichte, es ist genauso wie Sie angenommen haben.«
Lady Cardoon musterte sie aus ihrer natürlichen Höhe ungestört weiter, bis Olivia schließlich ein offizielles Lächeln aufsetzte: »Ich bin kein gefährliches Tier, ich interessiere mich nur für Bücher. Und für Inneneinrichtung«, schob sie hinterher, ohne genau zu wissen, warum eigentlich.
Eine Augenbraue hob sich leicht, ein