Brigitt verschloss mein Gewand, mit dem silbernen, bestickten Gürtel, und zog mich gleichzeitig eilig in Richtung Tür. Vorsichtig öffneten wir die schwere Eichentür und spähten in den langen Korridor. Wir hatten Glück, keinerlei Wachen!
Langsam schlichen wir den Gang entlang. Beinahe hatten wir das andere Ende des Korridors erreicht, da… urplötzlich hörten wir ein Geräusch. Augenblicklich erstarrte ich in meiner Bewegung, ängstlich schaute ich zu Brigitt. Sie schob mich sanft in eine Nische, legte den Finger auf meinen Mund und flüsterte gleichzeitig mir zu: „Ich werde die Wachen weglocken. Sobald ich Euch den Rücken zuwende, schleicht Ihr Euch aus dem Korridor. Viel Glück, Lucia.“ Sie drückte mich noch einmal ganz feste an sich, drehte sich um und ging entschlossen in Richtung der Schritte. Angsterfüllt lauschte ich, es waren wahrhaftig die Wachen. Sie sollten vor meiner Kammer anscheinend Stellung beziehen. Zögernd schlich ich durch das Tor. Gott sei Dank, ohne jegliche Zwischenfälle.
Dank Brigitts Ablenkung erreichte ich die Steintreppe, die hinunter zum Innenhof führte. Unbemerkt schlich ich die lange Treppe hinunter. Der Innenhof war durch die Morgendämmerung in ein gespenstiges Licht getaucht, keine einzige Menschenseele konnte ich erblicken. Wo war Raven?
Mein Herz klopfte so schnell und laut, dass ich diesbezüglich Angst hatte es könnte mich augenblicklich verraten. Endlich hatte ich die Pferdeställe, ohne dass mich jemand erspäht hatte, erreicht. Raven stand mit drei Pferden im hinteren Bereich der Ställe. Besorgt schaute er sich um. Mit einem Mal hatte Raven mich entdeckt, zugleich winkte er mich zu sich und blickte unauffällig zur Seite.
„Lucia wir müssen ganz leise sein. Ich glaube, Gundsrad erahnt was wir vorhaben.“ Er reichte mir die Zügel eines Pferdes, worauf wir in gebückter Haltung zum westlichen Tor schlichen. Raven gab mir die Zügel der beiden anderen Pferde und öffnete lautlos das Tor. Ich machte einen Schritt nach vorne, da geschah es!
Mein Umhang blieb an einem Eimer hängen. Verdammt wieso stand er dortig, mitten in der Dunkelheit? Ich versuchte ihn schnellstmöglich wiederum abzuschütteln. Urplötzlich löste sich der Eimer von dem Umhang, rollte mit lautem Gepolter in Richtung Innenhof und blieb ebendort liegen. Wir hielten beide den Atem an und lauschten.
Allerdings hatten die Wachen den Lärm bemerkt. Sofort riefen sie: „Alarm! … Zu den Waffen! … Wir werden angegriffen!“ Mit verängstigten Augen blickte ich zu Raven. Er kam angerannt und riss mir die Zügel aus der Hand. Wütend zischte er mich an: „Los… mach schon!“
Geschwind half er mir auf das Pferd und gab diesem einen Klaps, sodass es sogleich nach vorne sprang in Richtung Tor. Raven stieg eilig auf sein Pferd, nahm das andere bei den Zügeln und trieb es voran. Mein Pferd hatte den Torbogen bereits erreicht. Unverzüglich legte ich meinen Kopf an den Pferdehals, damit wir das Tor ungehindert passieren konnten. Nach bangen Momenten war ich endlich auf offenem Gelände. Raven war hoffentlich hinter mir.
***
Langsam wendete ich den Kopf zur Seite. Erleichtert erblickte ich Raven, der tatsächlich hinter mir war. Er hatte mich nahezu eingeholt, jedoch meine Augen weiteten sich vor gänzlichem Entsetzen. Drei Wachen aus der nahen Burg sowie fünf andere Reiter verfolgten uns mit erheblicher Geschwindigkeit. Raven und ich hatten beinahe das naheliegende kleine Wäldchen, unser Ziel, erreicht. Jedoch die Reiter ließen sich keinesfalls mehr abschütteln. Ich hielt mich mit der linken Hand an der Mähne des Pferdes fest, mit der rechten Hand öffnete ich meinen Gürtel und streifte ein wenig unbeholfen den Umhang ab.
“Jetzt!“, schrie Raven mir zu.
Mit aller Kraft warf ich den adligen Umhang in ein Gebüsch, gleichzeitig ließ Raven das dritte Pferd los. Dieses lief aufgeschreckt in eine andere Richtung davon. Urplötzlich bemerkte ich den Gürtel. Der Gürtel meiner Mutter war mit ins Gebüsch gefallen. Verloren! Verdammt! Allerdings darüber konnte ich augenblicklich keinesfalls nachdenken.
Wir trieben unsere Pferde immer tiefer in den Wald hinein und glaubten uns gänzlicher in Sicherheit. Jedoch der Schein trügt, auf einmal sahen wir sie. Die Wachen! Unsere Verfolger hatten sich anscheinend zusammengeschlossen sowie gefährlich an Nähe gewonnen.
„Lucia! Ganz egal was jetzig auch geschehen wird versprich mir, dass du unter allen Umständen weiterreitest! Du darfst auf keinen Fall stehenbleiben, ansonsten wart alles umsonst! … Versprich es mir! - Verstecke dich im Wald! Nach einer Weile gehst du, wie besprochen zu der Ortschaft Ironby. Ebendort wird meine Tante Martha auf dich warten. Sie ist die hiesige Dorfschneiderin. Du kannst ihr gänzlich vertrauen.“ Verwirrt schaute ich Raven an, allerdings verstand ich nicht das Geringste. Was wollte er mir damit mitteilen? Jedoch im selbigen Moment erstarrte ich innerlich. Nein!
Raven gab seinem Pferd die Sporen, sodass er eine andere Richtung einschlug. Bei der nächsten Wegkreuzung war er bereits aus meiner Sichtweise verschwunden. Ich war allein! Dennoch kamen unsere Verfolger bedrohlich näher, zugleich machte sich urplötzlich Panik in mir breit. Was wenn sie mich gefangen nehmen würden? Gundsrad wäre außer sich vor Zorn!
Sogleich trieb ich mein Pferd noch schneller an. Augenblicklich presste ich mich fester an dessen Hals und hoffte inständig, dass ich ein sicheres Versteck im Wald finden würde.
„Dort! … Dort drüben ist einer von ihnen! Lasst ihn auf keinen Fall entkommen! Ihr folgt diesem, wir dem anderen!“ Aus einiger Entfernung vernahm ich Kampfgeschrei. Raven! Urplötzlich schossen etliche Pfeile durch die Luft. Ich versuchte mich noch kleiner zu machen, ängstlich klammerte ich mich an das Pferd. Bedrohlich sausten die Pfeile über mich hinweg, alsdann ich erleichtert eine kleine Lichtung wahrnahm. Da geschah es…
Ein schmerzerfüllter Schrei entfuhr mir. Dieser Schmerz! Ein Pfeil hatte mich anscheinend an der linken Schulter getroffen. Schmerz… ein unerträglicher Schmerz! Dieser raubte mir beinahe die Sinne. Stoßweise ging mein Atem, Schweißtropfen bildeten sich auf meiner Stirn, gleichzeitig brannte mein linker Arm wie Feuer. Ich versuchte mein Pferd in eine Baumgruppe zu lenken, jedoch konnte ich mich keinesfalls mehr an der Mähne festhalten. So schlug ich mit voller Wucht auf den harten Waldboden. Augenblicklich entwich mir die Luft aus der Brust.
Schmerzerfüllt hielt ich mir den linken Arm und rang nachhaltig nach Atemluft. Benommen schaute ich mich um, hierselbst konnte ich keinesfalls bleiben. Meine Verfolger waren gewiss gänzlich in der Nähe. Ich biss die Zähne zusammen und kroch, auf allen Vieren, in ein naheliegendes Gebüsch. Sogleich vernahm ich sie! Die Wachen! Die Reiter!
Augenblicklich hörte ich ihre Pferde… ihre Stimmen. Sie waren ganz in der Nähe und suchten anscheinend weiterhin nach mir. Panisch versuchte ich mich unter den Farnen zu verstecken. Zugleich drückte ich mich augenblicklich noch tiefer in die feuchte Erde und wartete. Sollte dies wahrlich mein Schicksal sein, dass ich in einem Wald endete?!
„An dieser Stelle ist wahrhaftig niemand! Möglicherweise ward er woanders abgesprungen!“ Rief einer der Verfolger jemanden anderem zu. „Sodann sucht ihn eben an einer anderen Stelle. Wir müssen ihn aufstöbern oder wollt ihr wahrhaftig die Peitsche von Sir Gundsrad spüren?! Ich für meinen Teil will lieber die Silberlinge, anstatt etlicher Peitschenhiebe“, schrie der Anführer sie äußerst energisch an.
„Sodann sucht ihn!“
Bitte! Bitte lasst sie mich keinesfalls finden… dachte ich flehend bei mir. Unwillkürlich schloss ich die Augen. Legte meinen rechten Arm über den Mund und versuchte, trotz der erheblichen Schmerzen, leise zu atmen. Dies war mir indessen schier unmöglich, da der Schmerz bei Weitem unerträglich wurde.
Eine Weile verging. Stille breitete sich aus. Keinen einzigen Laut vernahmen meine Ohren, sodass ich langsam jegliches Zeitgefühl verloren hatte. Die Tiere des Waldes begannen wiederum zu summen oder an zu zwitschern. Folglich war keinerlei Gefahr mehr in ihrer Umgebung. Gerade wollte ich aus meinem Versteck kriechen, alsdann eine raue Hand mir meinen Mund fest verschloss. Egal wer dies auch war, mein Blut gefror augenblicklich zu Eis, zugleich riss ich die Augen weit auf.
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