Nach dem Umziehen lief Frau Paulsen wieder in die Küche. Sie wirkte nun sehr aufgeregt. „Hoffentlich brennt nichts an“, sagte sie. „Hoffentlich werden die Klöße nicht matschig. Guck mal nach, ob auf dem Esstisch alles klar ist.“ Sina kicherte in sich hinein.
Pünktlich um sieben ging die Türklingel. In der Küche schepperte es ordentlich, als ihre Mutter hastig die Töpfe von den Herdplatten zog. Sina drückte auf und hörte jemanden die Treppe hinaufspringen.
Ihre Mutter stellte sich neben sie. „Gott, bin ich nervös!“, flüsterte sie.
Sina verstand das im selben Augenblick, als Jörg Wagner ihr gegenüberstand. Er sah einfach umwerfend aus! Schlank, athletisch gebaut, welliges, dunkles Haar, das ihm in die Stirn fiel. Und diese Augen! Frühlingshimmelblau! Die Nase schien etwas zu groß, aber sie passte in sein Gesicht.
Jörg wirkte völlig ungezwungen. Er lächelte Sina an, bevor er ihre Mutter begrüßte und ihr einen Blumenstrauß überreichte, der Sina ausnehmend gut gefiel, weil er hübsch bunt war.
Danach schüttelte Jörg ihr die Hand. Sein Händedruck war warm und fest. „Ihr beide habt dieselben schönen Augen“, stellte er fest, und Sina spürte, dass sie errötete.
„Geht schon mal durch. Das Essen ist gleich so weit.“
An der Stimme hörte Sina, dass die Mutter ihre innere Ruhe noch nicht zurückgewonnen hatte. Sie dagegen war völlig entspannt. In Jörg Wagners Gegenwart fühlte sie sich sofort wohl.
Er schnupperte. „Hier riecht’s gut. Was gibt es denn Schönes?“
„Gulasch, Rotkohl und Klöße“, antwortete Sina bereitwillig. „Und danach Vanillepudding mit Himbeeren.“
„Mm! Das gehört zu meinen Lieblingsgerichten!“
„Ich weiß“, rief Frau Paulsen aus der Küche. „Das hast du mir mal erzählt. Deshalb habe ich es ja gekocht.“
„Wie lieb von dir!“ Jörg wandte sich an Sina: „Und du hast geholfen?“
Sina schüttelte den Kopf und bedauerte plötzlich, dass sie das nicht getan hatte.
Sie setzten sich an den Tisch. Sina nahm sich einen Klecks Rotkohl.
Jörg warf einen Blick auf ihren Teller. „Magst du keinen Rotkohl?“, erkundigte er sich.
Sina zuckte die Achseln. „Mir ist eigentlich egal, was ich esse.“
„Nanu?“, wunderte er sich.
„Ich esse nur ungern“, fügte sie hinzu.
„Hast du Angst zuzunehmen?“
„Im Gegenteil. Ich wäre froh, wenn ich mehr wiegen würde. Aber ich mache mir nichts aus Essen. Und ich habe fast nie Hunger.“
„Wie schade! Da entgeht dir was.“
„Ein ewiges und leidiges Thema zwischen uns“, warf Frau Paulsen ein. „Ich finde, sie ist viel zu dünn.“
Jörg betrachtete Sina prüfend.
Der war dieses Gespräch äußerst peinlich. Ihre Mutter redete über sie, als wäre sie ein kleines Kind. Schlimmer noch: als wäre sie gar nicht anwesend! Was sollte Jörg von ihr denken! Wie eine Idiotin stand sie vor ihm da! Sie warf ihrer Mutter einen wütenden Blick zu. „Ich mag das ganze Zeug halt nicht besonders“, setzte sie unwirsch hinzu. „Das ist doch kein Grund, sich aufzuregen.“
„Na ja, so dünn bist du nun auch wieder nicht“, stellte Jörg fest. „Hauptsache, du fühlst dich wohl. Meinst du nicht, Michaela?“
Überraschenderweise stimmte ihre Mutter zu.
Sina strahlte Jörg an. In diesem Augenblick hatte er bei ihr gewonnen - auf der ganzen Linie!
Danach achtete niemand mehr darauf, wie viel oder wie wenig sie aß. Für ihre Verhältnisse war es eine Menge: ein halber Kloß und von dem anderen jeweils ein Löffel. Es schmeckte sogar halbwegs. Vielleicht, weil es Spaß machte, am Esstisch zu sitzen. Jörg konnte lustig erzählen. Zum Beispiel von seinem tollpatschigen Lehrling, der mit dem Hintern in einen Farbeimer fiel und mit seinem Hosenboden alles grün volltropfte. Oder von der alten Dame, die sich nicht entscheiden konnte, in welcher Farbe sie ihr Wohnzimmer gestrichen haben wollte, und mindestens dreimal am Tag anrief, weil sie ihre Meinung geändert hatte. Schließlich landete sie bei Dunkellila. Und dabei blieb sie. Keine Macht der Welt konnte sie davon abbringen. Sina schüttelte den Kopf. Dunkellila Wände – eine geradezu abartige Vorstellung!
„Holst du mal den Pudding, Apfelsinchen?“, bat ihre Mutter.
Jörg horchte auf. „Apfelsinchen“, wiederholte er, „das klingt nett, das gefällt mir.“
Beinahe hätte Sina gesagt: „Sie können mich ja so nennen, wenn Sie wollen.“ Im letzten Moment verkniff sie es sich. Das wäre nun doch verfrüht gewesen. Trotzdem hätte sie nichts dagegen. Fast kam es ihr vor, als würde sie ihn schon richtig gut kennen.
Ihre Mutter schaute auf die Uhr. „Wenn wir noch ins Kino wollen, müssen wir uns beeilen. Sina bringt die Küche schon in Ordnung.“
„Von mir aus können wir hierbleiben“, erwiderte Jörg. „Ich finde es richtig gemütlich bei euch. Außerdem regnet es. Lass uns ein anderes Mal ins Kino gehen.“
Frau Paulsen lächelte. „Einverstanden.“
Zu dritt machten sie sich ans Aufräumen. Die Mutter brachte das Geschirr in die Küche und Sina nahm die große Tischdecke ab. „Könnten Sie mir beim Falten helfen?“, bat sie.
Jörg fasste das Tischtuch am anderen Ende an. „Du kannst ruhig du zu mir sagen, wenn du willst.“
Und ob sie das wollte! Sie freute sich über das Angebot, obwohl es sie gleichzeitig ein wenig verlegen machte.
Als alles aufgeräumt war, ging Frau Paulsen mit Jörg ins Wohnzimmer. Wie selbstverständlich folgte Sina ihnen. Die beiden setzten sich auf die Couch und Jörg legte den Arm um ihre Mutter. Aus irgendeinem Grund störte Sina das und sie versuchte wegzusehen.
Sie sprachen über einen Film, den sie zufällig alle drei kannten. Er handelte von der Tochter einer Deutschen und eines Japaners. Die ersten fünfzehn Jahre ihres Lebens verbrachte sie in Japan, danach zog die Familie nach Deutschland. Das Mädchen wusste nicht, wohin sie gehörte, konnte sich für keine der beiden Kulturen entscheiden. Erst am Ende begriff sie, dass sie beide Mentalitäten in sich vereinigte und dass es genau das war, was ihre unverwechselbare Persönlichkeit ausmachte.
Der Film gefiel Sina wirklich sehr gut. Im Nachhinein wunderte sie sich, dass sie nie mit ihrer Mutter darüber gesprochen hatte. Wahrscheinlich, weil sie automatisch annahm, dass die sich nicht für ihre Meinung interessierte. Jörg hingegen interessierte sich sehr dafür. Er stellte viele Fragen, hörte ihr aufmerksam zu und nahm sie richtig ernst. Man konnte wunderbar mit ihm diskutieren.
Sina erzählte, dass sie ein Mädchen mit einer deutschen Mutter und einem türkischen Vater kannte.
„Hat deine Mitschülerin ähnliche Probleme wie das Mädchen in dem Film?“, wollte Jörg wissen.
„Ich glaube nicht“, antwortete sie nach einigem Nachdenken. „Melissa fühlt sich wie eine Deutsche und sie lebt hier ganz normal. Sie fährt nur in den Ferien in die Türkei und möchte nach der Schule in Deutschland bleiben.“
„Wer weiß, was in ihrem Innern vorgeht“, gab Jörg zu bedenken. „Der Deutsch-Japanerin im Film hat man von außen auch nicht angesehen, wie sehr sie sich quälte. Möglicherweise hätte es ihr geholfen, wenn sie sich jemandem anvertraut und offen über ihre Probleme gesprochen hätte.“
„Meinst du, das hätte was geändert?“
„Bestimmt. Gefühle in sich hineinzufressen, ist das Verkehrteste, was man tun kann.“
Sina konnte