Jetzt ging Sina ein Licht auf. „Ach, deshalb bist du in letzter Zeit oft spät nach Hause gekommen. Du warst mit ihm verabredet! Und ich dachte, du machst Überstunden!“
Ihre Mutter lachte verlegen und wandte ihr wieder den Rücken zu, um die Frikadellen in der Pfanne zu wenden. „Du kannst schon mal den Tisch decken“, sagte sie wie beiläufig.
„Kenne ich den?“, fragte Sina, während sie Teller aus dem Schrank holte.
„Nicht persönlich. Aber du hast sicher schon von ihm gehört. Er besitzt ein Malergeschäft hier am Ort, das er von seinem Vater übernommen hat. Der Betrieb existiert schon seit Jahrzehnten.“
„Ich weiß, wen du meinst“, fiel ihr Sina lebhaft ins Wort. „Der war neulich auch bei Jenny, als sie renoviert haben. Wagner heißt der, stimmt’s? Oder war es Wegener?“
„Wagner.“
Sina legte Besteck neben die Teller. „Und wie bist du an den gekommen?“, wollte sie wissen.
„Seine Firma hat die Renovierung unserer Büros übernommen. Er schaute zwischendurch öfter vorbei. Wir sind ins Gespräch gekommen, haben die Mittagspausen miteinander verbracht und uns nach der Arbeit getroffen.“
Sina fand die Geschichte dermaßen interessant, dass sie glatt darüber das Tischdecken vergaß. „Wie ist er denn?“, löcherte sie ihre Mutter weiter.
„Nett und lustig.“
„Und wie sieht er aus?“
„Sehr gut, finde ich. Er hat dunkle Haare, blaue Augen, ein sehr sympathisches Gesicht. Und er lächelt so lieb ...“ Sie schaute versonnen vor sich hin.
„Mama! Du bist ja richtig verknallt!“
Wie witzig, jetzt wurde ihre Mutter tatsächlich rot! Sie atmete tief durch, dann sagte sie: „Ich habe Jörg übrigens für morgen zum Abendessen eingeladen. Und danach gehen wir ins Kino. Er ist genau so ein Filmfan wie ich.“
Das wurde ja immer interessanter! „Okay“, sagte Sina. „Ich bin gespannt.“ Sie überlegte. Es war schon ein komisches Gefühl, dass ihre Mutter einen Freund hatte. Einerseits könnte man fragen: Warum nicht? Sie war nett und sah gut aus. Andererseits: in ihrem Alter? Sie war schon 39, fast 40! War das nicht viel zu alt für so was?
Nein, ihre Mutter, verliebt, das konnte sie sich nur schwer vorstellen. Hoffentlich war der Mann wirklich in Ordnung. Vorher konnte man das nie wissen ...
„Woran denkst du?“, fragte ihre Mutter.
„An diesen Gero. Weißt du noch?“
Michaela Paulsen schlug die Augen zum Himmel. „Erinnere mich bloß nicht an den!“
Als Sina noch in die Grundschule ging, war ihre Mutter mit Gero befreundet gewesen, einem Junggesellen. Bei dem wurde es richtig ernst. Zeitweilig war sogar von Hochzeit die Rede. Sina dachte mit Schrecken an diese Zeit zurück. Am Anfang war er ja ganz nett, sie unternahmen oft was zusammen am Wochenende. Aber dann gab es immer häufiger Streit. Er wollte alles bestimmen, hatte stets und ständig Recht und schien zutiefst getroffen, sollte es jemand wagen, anderer Meinung zu sein als er. Wenn er beleidigt war, tauchte er ab und blieb tagelang wie vom Erdboden verschluckt. Dann stand er plötzlich wieder vor der Tür, als wäre nichts gewesen. Bis ihre Mutter die Nase voll hatte und ihm den Laufpass gab.
Sina war damals sehr erleichtert. „Kein Wunder, dass der keine Frau gefunden hat“, dachte sie. „Der treibt ja jede in den Wahnsinn.“ Ihre Mutter zumindest war am Ende nur gestresst gewesen. Auch noch nach der Trennung. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie wieder die Alte war.
„War Jörg schon mal verheiratet?“, erkundigte sie sich.
„Ja.“ Ihre Mutter lächelte. „Er ist in allem das genaue Gegenteil von Gero.“
Vor lauter Jörg und Gero merkte ihre Mutter erfreulicherweise nicht, dass sie kaum etwas aß. Diesmal lag es hauptsächlich an der aufregenden Neuigkeit, dass ihr der Appetit vergangen war.
Während Sina das Geschirr in die Spülmaschine räumte, wurde ihr klar, wie sehr sie sich freuen würde, wenn Jörg Wagner tatsächlich so nett wäre, wie ihre Mutter behauptete. Sie hatte sich schon immer einen Vater gewünscht. Sina kannte ihren eigenen nicht. Er verließ ihre Mutter, bevor sie geboren wurde. Wegen ihr. Weil er auf gar keinen Fall ein Kind haben wollte.
Sina guckte sich immer die Väter von anderen an. Jennys zum Beispiel war klasse. Um den beneidete sie ihre Freundin. Die beiden hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Er verteidigte sie immer vor ihrer Mutter und machte nie Theater, wenn Jenny mal nicht das tat, was man von ihr erwartete. Sie hatten eine gemeinsame Leidenschaft: das Marathonlaufen. Fast jedes Wochenende brachen sie gemeinsam auf.
„Du hast es gut“, sagte Sina mal, als Jenny ihr davon vorschwärmte. Sie meinte, weil die einen so lieben Vater hatte, aber ihre Freundin verstand sie falsch und dachte, ihr ginge es ums Marathonlaufen. „Komm nächstes Wochenende mit uns“, schlug sie vor. „Dann laufen wir nur die halbe Strecke. Mein Papa ist bestimmt einverstanden.“
„Du bist gut! Ich kann zwanzig Kilometer nicht mal gehen, geschweige denn laufen.“
„Du musst bloß trainieren.“
„Nee! Dazu habe ich keine Lust. Du weißt doch, dass ich Sport hasse!“
Jenny schüttelte den Kopf. „Du redest wie Mama. Die will auch nie mitkommen.“
„Meinst du, dein Jörg mag Jugendliche?“, erkundigte Sina sich bei ihrer Mutter.
Frau Paulsen lachte. „Klar! Sonst hätte ich ihn nicht eingeladen.“
„Woher weißt du denn, dass er sie mag? Hat er selbst Kinder?“
„Nein. Aber er hat gesagt, dass er gern welche hätte. Und dass er sich darauf freut, dich kennenzulernen. Ich bin sicher, ihr werdet euch gut verstehen.“
Natürlich musste Sina gleich nach dem Abendessen Jenny anrufen. „Stell dir vor, meine Mutter hat einen Lover“, platzte sie heraus.
„Ziemlich spannend“, fand ihre Freundin das und fügte hinzu: „Vielleicht wird das auch für dich ganz schön.“
„Das bleibt abzuwarten“, antwortete Sina. „Liebe Güte, hoffentlich gibt das am Ende kein Drama ...“
Kapitel 2
Sina musste heimlich lachen, als sie ihre Mutter bei den Vorbereitungen für das große Ereignis beobachtete.
Morgens verbrachte sie Stunden in der Küche, um Gulasch und einen Vanillesahnepudding mit Himbeersoße herzurichten. Sogar die Klöße und den Rotkohl bereitete sie frisch zu.
Am Nachmittag verschwand sie im Badezimmer. Irgendwann klopfte Sina an die Tür. „Denkst du, du kommst da heute noch mal raus?“
Ihre Mutter öffnete. Sie hielt einen Föhn in der Hand, und in ihren blonden Haaren steckten mehrere Rundbürsten. „Ich bin gleich fertig. Ich muss mich nur noch schminken.“
Sie hatte dieselben graugrünen Augen wie Sina. Und Lidschatten in haargenau dieser Farbe. Das sah toll aus, wenn sie den auftrug. Das Kästchen, Wimperntusche und andere Utensilien lagen schon auf der Ablage unter dem Spiegel bereit.
Sina trat ein. „Darf ich deinen Lidschatten benutzen?“
Die meisten Mädchen in ihrer Klasse schminkten sich schon lange, bloß ihre Mutter fand aus unverständlichen Gründen, sie wäre noch zu jung dafür. Erstaunlicherweise hatte sie jetzt nichts dagegen.
Und wo Sina schon mal dabei war, nahm sie gleich noch ein bisschen Wimperntusche. Kritisch betrachtete sie sich im Spiegel. Sie mochte ihre Augen. Und mit Make-up sahen sie noch besser aus.
„Was meinst du: Soll ich Jeans und ein weißes T-Shirt anziehen oder meinen blauen