Für diese paar Minuten, in denen der Bus hält, gehört Wallroda tatsächlich zu Bad Bibra, ist Stadtteil in Randlage. Den Rest des Tages aber ist es, was es schon immer war: ein Dorf hinterm Ende der Welt.
Bad Dürrenberg
Bad Dürrenberg hat ein Gradierwerk und sonst nichts. Das ist traurig, aber nicht zu sehr, denn andere Städte im Umkreis – nennen wir Leuna – haben noch weniger, also gar nichts.
An den üblichen Wochenenden lässt es sich in aller Ruhe durch „Dörrnberch“ schlendern, entlang der Saale vielleicht oder durch den höher gelegenen Kurpark. Im Restaurant Altes Badehaus prangen Audrey Hepburn und Kollegen nicht ganz stilecht neben ländlichen Küchengeräten an einer Wand, deren Farbe mit dem Kupferglanz der Tiegel und Backformen dafür umso mehr harmoniert. Dass hier insgesamt eher Landidylle als Hollywood vorherrscht, beweist die Kellnerin, die duzend und mit mütterlichem Wohlwollen serviert. Aber die Mütterlichkeit kommt von keiner lieben, guten Matrone, sondern von einer teilnahmslosen Servicekraft mit kaltem Aschegeruch. Und es gibt hier auch nur wenig Kuchen, noch weniger Gäste, trotzdem die Kellnerin versichert, dass welche da seien. Nur eben gerade zur Kaffeezeit nicht im Café. Man spaziere wohl lieber durch die Kuranlage, die sich aber auch als menschenleer erweist, wenngleich das hier nicht stört.
Zum Glück hat ja Bad Dürrenberg sein Gradierwerk! Wo sonst – eben an den üblichen Wochenenden – verträumt gesalzene Luft inhaliert werden kann, findet einmal im Jahr das Brunnenfest statt. Seit 250 Jahren inzwischen. Zum diesjährigen Jubiläum haben sich die Veranstalter etwas ganz Besonderes einfallen lassen: Eintrittsgelder.
Denn das ist ja ein ganz hässlicher Trend hier im Land: Die Merseburger Schlossfestspiele, das Naumburger Hussiten-Kirschfest, das Querfurter Burgfest, das Bad Lauchstädter Brunnenfest und nun auch das Bad Dürrenberger: Alle Volksfeste in der Region sind plötzlich kostenpflichtig. Um die Qualität der Veranstaltung zu gewährleisten, sagen die Städte und reiben sich die Hände. Und um das Ganze überhaupt zu finanzieren. Zum Beispiel die Kassenhäuschen an den Zugängen zum Kurpark.
Armes Deutschland, wenn Volksfeste schon so flächendeckend zu Volkswirtschaftsfesten werden! Armes Bad Dürrenberg, dass die Fressbuden und – noch schlimmer – die Handtaschen, Herrenschuhe und Fensterreiniger trotzdem Zugang zum qualitätsgesicherten Brunnenfest gefunden haben! Am Gradierwerk stinkt es heute nach Klostein und lackiertem Kunstleder, Plüschhunde wackeln mit dem batteriebetriebenen Kopf. Auch Kittelschürzen gibt es hier zu kaufen.
Aber reißen wir uns zusammen, suchen wir nicht die Nadel im Heuhaufen: Was also hat das Brunnenfest, was hat Bad Dürrenberg heute zu bieten? Einen Aufmarsch der gewesenen Bergarbeiter aus Zielitz bei Magdeburg. Das Dauerwerbeprogramm einer Laienspielgruppe aus Weißenfels. Sächsische Kanoniere aus dem Dreißigjährigen Krieg ohne Kanone. Ritter, die sich ohne Schwerter verhauen. Eine Country-Band.
Und der Brunnen? Und Bad Dürrenberg? Die gibt es heute nicht, auf dem 250. Brunnenfest in Bad Dürrenberg, das ja nur ein Gradierwerk hat und eben nur das (als Kulisse) zum Fest beisteuern kann.
Ballenstedt
Gerade weil im Harz eigentlich immer schlechtes Wetter ist (fragen Sie mal Joseph Roth danach), weil es hier oft regnet und windet oder die Hexen mal wieder umgehen, sollte man sich gut überlegen, welcher Ort hier wirklich einen Besuch wert ist. Der Brocken, Quedlinburg, Wernigerode – ja. Ballenstedt hingegen ist nicht selten nicht die erste Wahl in einschlägigen Reiseführern.
Die kleine Stadt im Unterharz besitzt ein Schloss, einen dazugehörigen Park, eine Allee und einen kleinen Marktplatz. Offiziell wird die Stadt als Residenzstadt und Erholungsort beworben, aber Erholung (und einen Schnupfen) kann man sich überall im Harz holen. Und Residenzen gibt es auf jedem Berg im Umland: in Harzgerode, in Hoym, in Gernrode und Falkenstein – überall saß irgendwann irgendwer und befahl über irgendwen.
In Ballenstedt gibt es wahrlich nicht viel zu sehen, dafür umso mehr zu empfinden: nämlich die ganz große Geschichte. Hier steht die (inzwischen überbaute) Wiege der Askanier, die einst über Sachsen und Brandenburg geherrscht haben und später das Herzogtum Anhalt als Rudiment ihrer einst riesigen Territorien zum Land Sachsen-Anhalt beisteuerten.
Hier residierte der legendäre Albrecht der Bär, spielte Franz Liszt am Theater und schrieb Wilhelm von Kügelgen seine wunderbaren „Jugenderinnerungen eines alten Mannes“.
Aber all das kann man natürlich nicht sehen, das muss man erst wissen und dann empfinden. Und wem dafür der Tiefgang oder die Muße fehlt, der mag sich beim Flanieren um den Schlossteich daran erinnern, dass hier, an diesem für die mitteldeutsche Geschichte so bedeutsamen Ort, auch eine anhaltinische Prinzessin geboren wurde, die nicht nur einen Preußenprinzen heiratete, sondern auch jenen Saunabetreiber adoptierte, der den Namen Anhalt nach Hollywood brachte. Sie wissen schon, dieser Frédéric.
Barby
Einen Satz wissen alle Grundschüler im Land gleichermaßen gebetsmühlenartig herunterzuleiern: „Die Saale fließt bei Barby in die Elbe.“ Wo die Bode, die Unstrut und die Weiße Elster in die Saale münden, wo die Mulde, die Ohre und die Schwarze Elster in die Elbe fließen – das wissen die Leute vor Ort, wo auch immer der sein mag. Barby aber ist landesweit berühmt für das dortige Zusammengehen der beiden größten Flüsse, die durch Sachsen-Anhalt ziehen. Für mehr allerdings auch nicht, sodass Barby die bekannteste unbekannte Stadt des Landes ist, noch vor Egeln und Oebisfelde-Weferlingen.
Was nicht weiter wundert, denn das kleine Landstädtchen an Elbe und Saale ist tatsächlich ziemlich unbedeutend, im geografischen wie im geschichtlichen Sinn. Zwar zieht sich Barby auf eine Fläche hin so groß wie keine andere Stadt oder Gemeinde im Salzlandkreis, doch den Einwohnern nach – ach herrje! Da stehen ein paar Häuser zwischen Kirchgasse und Küstergasse, zwischen Lindenstraße und Lindenallee – und weit draußen im westelbischen Flachland bringen zehn eingemeindete Dörfer den Stadtcharakter von Barby restlos zum Verschwinden.
Ja, früher natürlich! Da gab es die Edlen von Barby, die einmal über das so viel größere Zerbst geboten und dann doch zwischen dem Magdeburger Erzbistum und den Anhaltinern zerrieben wurden, bis die Grafschaft Barby schließlich an Sachsen fiel. Seitdem – das war ziemlich genau 1659 – war Barby nur noch eine nachgestellte Handelsstadt, ein etwas größeres Fischerdorf (woran heute noch das Fischertor und die Fischerhäuser dem Namen nach erinnern).
Was aber hat Barby zu bieten außer zwei recht große Flüsse und etwas herrliche Landschaft, was beides ja auch ohne dem Städtchen da wäre? Da ist zunächst einmal das Rathaus, das recht malerisch mit zwei Kirchen über Eck den Marktplatz umsäumt. Dann gibt es da noch ein Schloss, ein ehemals herzogliches Schloss sogar, wenngleich auch nur des Herzogtums Sachsen-Weißenfels – Die Kleinstaaterei lässt grüßen. Und der deutsche Behördenwahn: Im Schloss sitzt das Grundbucharchiv des Landes.
Es bleiben in Barbys zentralem Ortsteil Barby (Elbe) nur noch Prinz und Prinzeßchen. Und das ist wirklich eine recht verdrehte Angelegenheit: Das Prinzeßchen nämlich ist ein alter Wehrturm, hübsch restauriert und mit dem ansehnlichen Fachwerk zweifellos das schönste Stück der noch erhaltenen Stadtmauerreste. Der Prinz hingegen ist – ein Teehaustürmchen, draußen feister Barock, drinnen verspielter Rokoko. Wer über dieses kleine gender crossing hinaus etwas erleben möchte in Barby, muss über Barby (Elbe) hinaus gehen. Die Heimatstube von Lödderitz, die Bockwindmühle von Sachsendorf, die Rosenburg von Groß Rosenburg – Das alles ist ohne Zweifel sehenswert, betont aber eher die jeweilige dörfliche Eigenart der Ortsteile, ohne dass Barby selbst an Profil gewänne. Und so wundert es nicht weiter, dass Breitenhagen im Südosten seine eigene Elbfähre hat und Gnadau im Nordwesten weitaus besser an den Regionalverkehr angebunden ist als die Kleinstadt, nein das Großdorf Barby, wo die Saale in die Elbe mündet.
Bernburg