Sie denkt kurz nach und meint weiter:
„Komm, ich zeige dir mal was.“
Voller Enthusiasmus steht sie auf, eher ein wenig hektisch.
„Och, Simone. Wir sitzen doch gerade erst.“
„Kannst dich auch gleich wieder hinsetzen, wenn wir da sind. Komm einfach mal mit!“
Jan steht ebenfalls auf und folgt ihr über den Marktplatz, der aber mehr einem Parkplatz gleicht. Autos neben Autos. Vorbei an der alten Stadtbücherei kommen die beiden über eine Seitenstraße wieder zur Rheinpromenade. Die Promenade eignet sich in dieser Stadt sehr gut um einen Spaziergang zu machen. Sie liegt direkt am Rhein und hier fahren keine lästigen Autos, also ein reiner Fußweg, der zudem noch schön gestaltet ist. Entlang des Weges erstreckt sich wieder die alte Stadtmauer, die teils noch aus dem 14. Jahrhundert stammt. Und mit ihren Katakomben ist sie zudem noch ein Touristenmagnet.
„Die Mauer wurde im Mittelalter als Bollwerk gegen die Spanier erbaut“, fügt Jan nebenbei an.
„Ja, ich weiß. Komm wir gehen runter zum Rhein!“, meint sie desinteressiert und zieht das Tempo noch ein wenig an.
„Sind wir schon da?“, ruft Jan amüsiert hinterher.
„Nein!“, antwortet sie knapp.
Zwischen Promenade und Rhein windet sich ein Grünstreifen, bevor man zu den Kribben kommt, die die Gewalt des Stromes ein wenig drosseln sollen. Ein Stückchen weiter, zwischen zwei der Kribben, liegt eine kleine Halbinsel. Wie eine große Zunge streckt sie sich in den Rhein. Von außen recht unspektakulär, da es von hier wie eine Sandbank mit Wildwuchs aussieht. Also keine Struktur zu erkennen. Allerdings, wenn man sich erst einmal durch das Dickicht gekämpft hat, macht sich ein Ort auf, welchen Jan hier nie vermutet hätte. Kleine Bäume wachsen da. In Blüte stehende Sträucher stehen dazwischen und durch einige Sandwellen windet sich ein kleiner Bach, der von einem Seitenarm des Rheins gespeist wird. Überall stehen kleine Grasinseln im Sand, aus denen immer mal wieder eine blumenartige Gewächsstruktur herausschaut. Um die Halbinsel herum wuchert eine gewaltige Wand von niederrheintypischem Weidengebüsch. Es sieht inmitten dessen aus, als hätte hier ein erstklassiger Gärtner seine Hände mit im Spiel gehabt. Und das alles auf Sand gebettet.
„Komm, leg dich mal hier in den Sand und höre einfach den Geräuschen zu“, fordert ihn Simone auf.
Mal abgesehen davon, dass Jan das alles immer noch ein wenig naiv findet, folgt er doch ihrer Aufforderung und legt sich mit in den Sand. Er sieht sich zwischen Bäumen und Sträuchern liegen und neben ihm der kleine Bach. Der Wind weht durch die Baumwipfel und erzeugt mit Hilfe der Sonne ein unbeschreibliches Lichtspiel. Es fahren Schiffe vorbei, die mit ihren schweren Dieselmotoren das typische Rheinflair erzeugen. Vögel zwitschern und im Hintergrund hört man leise Kinder tobend auf einem nicht weit entfernten Spielplatz lärmen. Auch wenn er es eigentlich nicht zugeben will:
„Das ist ja echt genial. Hier könnte ich den ganzen Tag liegen bleiben.“
„Ich auch“, fügt Simone hinzu, „An solchen Orten bin ich öfter und lade meine Energien wieder auf. Hier lässt sich auch einmalig für die Schule lernen. Hier hast du wenigstens deine Ruhe. Du siehst ja, wenn man nicht weiß wie es hier drinnen aussieht, geht man doch auch hier nicht rein, oder?“
Nach dieser Anmerkung muss Jan wieder an die Schule denken.
„Nächste Woche ist ja die Klassenfahrt. Hab ja eigentlich keine Lust auf Museumstour zu gehen. Detmold, da ist ja mal gar nichts los. Da gibt es doch nur Wald. Will nicht hoffen, dass es wieder so langweilig wird wie das letzte Mal. Weißt du noch auf dem Wolfsberg bei Kleve? Nachtwanderung und Konsorten. Das war ja nicht so erbauend.“
„Wolfsberg war schon OK. Ihr Jungs habt euch allerdings auch ordentlich daneben benommen. Bist du nicht damals mit Daniel aus dem Zimmer geflogen?“
„Ja, leider“, antwortet Jan. „Aber sag nicht, dass bei euch alles gesittet zuging. Ihr habt dort auch ziemlich herum gelärmt.“
„Nee, hast ja Recht. Aber was Detmold anbelangt, freue ich mich schon tierisch darauf. Denn für mich ist das so etwas wie ´ne Wallfahrt.“
„Wie, wie ´ne Wallfahrt?“, fragt Jan verdutzt.
„Ja, die Christen latschen nach Kevelaer. Wir Heiden haben andere Orte die wir aufsuchen. So genannte Kraftorte. Manche meinen, dass an solchen Orten die Götter besonders stark in Erscheinung treten. Einen solchen Ort werden wir nächste Woche besuchen.“
„Ach ja? Detmold?“
Jan muss erneut ein wenig schmunzeln.
„Nein, nicht Detmold. Die Externsteine. Dort treffen sich regelmäßig heidnische Gruppen zum Blót oder Sumbel und laden ihre Talismane auf. Es ist dort im Sommer aber auch ziemlich überlaufen. Für die einen sind es nur unwissende Besucher, für die anderen ist es die größte Christentraube der Welt. Die sind dort nämlich auch anzutreffen.“
Beide müssen lachen.
„Christentraube! Nicht schlecht. Was ist denn ein Sumbel?“
„Ihr würdet dazu Saufgelage sagen. Wir sagen dazu Umtrunk. Ein Meeting halt.“
Nach einer kurzen Pause meint Jan:
„Die Externsteine als heidnischer Wallfahrtsort. Das wird ja immer besser. Also wenn ich das alles zu Hause erzählen würde, dann würde dort kurz darauf ein Krisenstab tagen. Bei uns heißt es, Heiden seien Spinner. Also Leute, die nicht ganz richtig im Kopf sein können. Ich wurde selbst so mit diesem Gedankengut erzogen.“
„Denkst du das denn auch wirklich?“, erwidert Simone erschrocken.
„Nein! Definitiv nicht. Bin ja nicht engstirnig. Aber Zuhause wird alles ins lächerliche gezogen, was irgendwie unter die Kategorie Fantasy fällt. Hej“, bricht Jan ab.
„Was ist denn?“
„Hast du den Schmetterling gesehen? Der sah ja merkw…, äh, …ach nichts.“
Jan traut seinen Augen nicht.
„Ich glaube, hier fliegen heute echt komische Schmetterlinge durch die Gegend.“
„Du tust ja gerade so, als hättest du eine Elfe gesehen.“
Sie schaut ihn mit neckischer Miene an.
„Jetzt mach dich nur lustig über mich. Elfen gibt es nicht. Aber mal im Ernst, so ähnlich hat der ausgesehen.“
„Nur weil die Christen nicht dran glauben, soll es so etwas nicht geben? Du bist ja naiv, Jan. Wenn du meinst, dass das eine war, dann wird es wohl auch so sein. Nur so nebenbei. Ich glaube nicht an Engel. Noch Fragen?“
Jan fährt fort, obwohl er erst einmal überlegen muss, wo er gerade stehen geblieben ist:
„Ähm, ja. Aber wenn ich das zu Hause erzähle, zweifeln die an meiner Erziehung. Die kommen aus dem Beten nicht mehr heraus und holen wohlmöglich einen Exorzisten. Uahhh.“
„Du musst es doch nicht sofort erzählen. Erzähle es dann, wenn der Zeitpunkt günstig ist. Außerdem sind wir alt genug. Wir sind siebzehn und für unser Gesicht mittlerweile selbst verantwortlich!“ Sie muss erneut lachen. „Ich kann übrigens nicht glauben, dass deine Familie so verkniffen sein soll.“
„Nein“, sagt Jan, “So schlimm sind die wirklich nicht. Aber ich rechne schon mit einem Umgangsverbot. Die werden mir garantiert untersagen, dass wir uns weiter treffen dürfen.“
Jan schaut auf die Uhr.
„Oh, schon acht Uhr. Ich sollte mal so langsam nach Hause gehen. Essenszeit. Wenn ich nicht pünktlich bin, flippen die wieder aus. Meine Eltern sind da sehr eigen. Du scheinst das Problem wohl nicht zu kennen, oder?“
„Nein, ich kann mir mein Essen doch wieder aufwärmen. Es gibt schließlich Mikrowellen.“
„Schon richtig. Ist bei uns aber nicht