„Hallo Jan, komm rein“, empfängt sie ihn.
Im Flur legt er seine Klamotten ab und geht in die Küche, wo bereits das Mittagessen auf ihn wartet. Am Mittagstisch kehrt immer ein wenig Ruhe ein, denn hierbei flimmert ständig der stimmungsbetäubende Fernseher. Abschlussklasse 2005, na ja. Verträumt lässt er sich die Fischstäbchen mit Spinat und Kartoffelpüree schmecken.
„Hast du heute eigentlich viele Hausaufgaben auf?“, fragt sie ihn kurz.
Jan, der verträumt am Tisch in seinem Essen herum pickt, reagiert zunächst gar nicht.
„Jan?“
„Was? Nein, heute mal nichts“, erwidert er desorientiert.
„Nun ja, das wäre bei dem tollen Wetter auch nicht so schön gewesen“, antwortet sie und wendet ihren Blick zurück zum Fernseher.
„Nicht wirklich.“
Nun hat die Konversation erneut ein jähes Ende gefunden.
Aufgeregt verlässt er kurze Zeit später ihr Haus. Nachdem er seine Schulutensilien in der Wohnung seiner Eltern verstaut hat, verlässt er diese nach nur wenigen Minuten auch wieder. Er geht die Straße entlang und biegt in einen kleinen Weg ein, der an den Rhein zum sogenannten Mühlenturm führt. Am Ende dieser Flächenversiegelung steigt Jan die abgetretenen Stufen, die vor langer Zeit in die Stadtmauer integriert wurden, hinunter zur Rheinpromenade. Er geht diese ein ganzes Stück entlang, bis er vor dem Pegelturm steht. Jan ist, wie zu erwarten war, ein wenig zu früh dran. So setzt er sich dort auf einen großen Lavastein, der als einer unter vielen direkt am Rheinufer liegt. Er wartet, schnippt kleine Steine ins Wasser und schaut den Schubschiffen zu, wie diese vollbeladen und schwerfällig an ihm vorbeifahren.
„Die kommt ja eh nicht. Die hat mich bestimmt verarscht und lacht sich irgendwo um die Ecke Schrott, wenn sie mich hier so sitzen sieht“, denkt er.
Dann steht er kurz auf und plötzlich schwappt eine große Welle des an ihm vorbeifahrenden Schubschiffes ans Ufer, die ihn direkt getroffen hätte. Jan blickt auf den nun völlig nassen Stein, auf dem er gerade noch saß.
„Ui, da hab ich ja noch mal richtig Glück gehabt!“
Er schaut hoch. Da sieht er Simone, die gerade über die Promenade in seine Richtung schreitet. Als sie in seine Reichweite kommt, meint sie:
„Na, hat dir deine innere Stimme gerade mal wieder geholfen?“
„Was? Nein, das war nur Glück. Man kann ja nicht immer Pech haben, oder? Du immer mit deiner inneren Stimme“, antwortet er trotzig.
„Na ja. Komm, gehen wir ein Stück?“, erwidert Simone, die heute viel offener wirkt als sonst. „Da ich schon längere Zeit das Gefühl habe, dass du jemand bist mit dem man reden kann, erkläre ich dir mal ein paar Dinge. Auch die Geschichte mit dem Lagerfeuer und so. Wir sind nicht anders wie viele meinen. Und schon gar nicht verrückt. Bist du getauft?“
„Ja, bin katholisch. Wieso?“
„Siehst du, ich nicht. Ich bin nicht getauft und glaube auch nicht an euren Gott. Vielmehr glauben wir an mehrere Götter.“
„Seid ihr Satanisten?“, haut Jan dazwischen.
„Nein, du Schlaumeier. Würde ich Satan huldigen, hätte ich doch nicht mehrere Götter. Wir sind Asatruar.“
„He? Asa was?“, fragt Jan verdutzt.
„Asatru. So nennt man das, wenn man nach dem alten nordischen Glauben lebt. Du kennst bestimmt einige Götter wie Odin, Thor, Frigga, Freya, wo übrigens der Freitag nach benannt ist. Wusstest du, dass der Name Freitag und das Essen von Fisch an dem Tag heidnischen Ursprungs ist? Der Fisch ist einigen Überlieferungen nach Freyas Totemtier und wird ihr zu Ehren freitags gegessen. Und was dazukommt ist, das die Zahl 13 zudem auch noch eine heidnische Glückszahl ist. Sie also hier einen hohen Stellenwert hat. Sie wurde daher unter anderem von den Kirchen zur Unglückszahl erklärt.“
„Ist ja ein Ding. Aber, … Ja Odin kennt man aus Filmen. Habe letztens mal den >13ten Krieger< gesehen. Den fand ich allerdings eher ein wenig übertrieben. Ihr seid also Heiden?“
„Ja genau, wobei das Wort Heide breit gefächert ist. Es gibt hier nicht nur die Asatruar. Was viele nicht wissen, es gibt auch Menschen, die dem alten ägyptischen, indianischen oder griechischen Glauben anhängen. Die Hexen gibt es auch noch. Allerdings haben die nicht viel mit Zaubern und so zu tun. Die halten zwar auch Rituale ab, wie zum Beispiel die Wicca, aber bei vielen von denen geht es hauptsächlich um die Kräuterkunde. Die nutzen halt die Kräuter im Garten, um heilende und schmerzlindernde Tees zu brauen. So kam wohl das Gespinst mit dem Hexenkessel auf. Ist allerdings eher ´ne Verallgemeinerung.“
„Aha. Und was macht man so als Asatru?“, fragt Jan.
„Wir leben so wie ihr Christen auch, nur nicht nach Dogmen. Bei uns ist alles mündlich überliefert und wesentlich älter. Wir verstehen uns als ein Teil der Natur. Und dein sogenannter Tanz ums Feuer ist eine Art Gottesdienst, so wie ihr sagen würdet. Es ist ein Treffen mit Gleichgesinnten, so etwas wie ein Stammtisch. Dabei wird den Göttern gedacht, mit ihnen in Kontakt getreten und die Bindung zu ihnen gestärkt. Wir sagen dazu Blót. So etwas hatten wir übrigens vor ein paar Wochen zur Mittsommernacht am Rhein.“
„Blót, aha. Ich habe es übrigens satt immer daran erinnert zu werden, dass ich in dieses Schema Kirche herein gedrückt worden bin. Hier herrscht der reine Zwang. Glaube dies und Glaube das, wenn du es nicht machst, dann kommst du in die Hölle. Und dir macht sowas Spaß? Das kann ich nicht so recht glauben.“
„Spaß würde ich nicht unbedingt dazu sagen, aber ich lebe sehr gut damit. Bei uns in der Familie gibt es keinen Zwang. Eure, oh entschuldige, die Kirche ist noch nicht so alt wie unser Glaube. Sie hat aber sehr viele Dinge daraus entnommen. Eine Art Engel gibt es auch bei uns. Nur heißen sie hier Feen und Elfen. Die sind aber nicht direkt zu vergleichen. Ostern ist nordisch und heißt bei uns Frühjahrstagundnachtgleiche, bei manchen auch Ostara. Weihnachten ist die Zeit Jul, auch Julfest oder Wintersonnenwende genannt. Dann feiert man den kommenden Frühling und die wieder länger werdenden Tage. Den Sieg über die Dunkelheit also. Der von den Christen übernommene Schutzengel gleicht der unseren Fylgja oder auch Folgerin, die heute angesprochene innere Stimme. Meine Eltern könnten das alles aber viel besser erklären. Aber nun weißt du, was an mir, mit anderen Augen gesehen meine ich, so anders ist. Nur der Glaube. Essen wir ein Eis?“
„Sicher.“
Die beiden kommen gerade an einer Eisdiele vorbei und gönnen sich nun erst einmal eines von dessen Verkaufsargumenten. An einem so warmen Sommertag wie heute, ist ein kühles süßes schon mal sinnvoll. Denn die Sonne brennt ihnen unermüdlich auf den Pelz. Jan ist immer noch sehr verunsichert. Denn die momentane Situation ist schon sehr ungewöhnlich für ihn. Da er aus einer konservativen Familie stammt und eher Mädchenfremd erzogen wurde, wusste er erst einmal gar nicht damit umzugehen. Dennoch taut er so langsam auf. Nach einer Weile setzen sie sich am Marktplatz auf eine Bank, die unter Bäumen an einer Pumpe steht und betrachten das momentane Treiben im Ort. Es ist Donnerstag und bereits viertel vor sechs. Die Glocken beginnen zu läuten, denn um 18 Uhr beginnt hier die Messe im katholischen Sakralbauwerk.
„Schau mal, die alten Leute auf der anderen Straßenseite, die gehen jetzt zur Kirche“, sagt Jan und muss dabei leicht schmunzeln.
„Möchtest du da auch hin?“, grinst ihn Simone dabei an.
„Du willst mich wohl auf den Arm nehmen, oder?“, meint er neckisch zurück. „Ich bin froh, dass ich das hinter mir habe. Ich finde, so oder so sollte keiner dazu gezwungen werden. Kinder werden geradezu gewaltsam missioniert. Sie können noch kein Wort sagen, werden aber schon getauft. Was machst du eigentlich so den ganzen Tag? Man sieht dich so selten in der Stadt.“
„Ich bin viel unterwegs, fahre viel mit