„Tja, die Fylgja ist ein Wesen, das dich unerkannt begleitet. Ich sagte ja bereits, sie ist halbwegs vergleichbar mit dem Schutzengel der Christen. Sie lenkt und beschützt dich. Gibt dir Rat und tritt oft als innere Stimme oder Intuition auf. Sie ist meistens andersgeschlechtlich. Soll heißen, dass du eine weibliche haben wirst und ich eine männliche. Sie zeigt sich gegebenenfalls als das Tier, welches deiner Seele gleicht. Jeder hat eine Fylgja. Manche sogar mehrere, was aber eher seltener vorkommt. Sie begleitet dich seit deiner Geburt und stirbt auch mit dir. Manche meinen, dass sie nach dem Tot auf jemand anderen übergeht. In anderen Sagen wird aber auch beschrieben, dass sie sich nach dem Tod mit dir in Liebe vereinigt und dann die Partnerin an deiner Seite wird. Das stelle ich mir persönlich aber etwas schwierig vor. Sehen kann man sie nicht, erst vor besonderen Ereignissen, zum Beispiel dem eigenen Tod. Es heißt, dass sie aber auch schon mal in Träumen auftauchen kann.“
„Ich glaube, ich weiß was du meinst. Ich hatte letztens mal ein Erlebnis. Ich fuhr mit dem Fahrrad so meine Tour. An einer Straßeneinmündung habe ich aus irgendwelchen Gründen nicht richtig aufgepasst. Ich hörte nur einen Wagen voll in die Eisen gehen, sah ihn noch gerade ausweichen. Auf der anderen Seite der Straße, das macht nun Sinn, sah ich ein supernettes Mädel stehen, das zu mir rüber schaute und lächelte. In dem Moment fing der Fahrer an mich anzuschnauzen. Ich war somit einen Moment unaufmerksam. Wenig später war sie weg.“
Simone schaut ihn überrascht an:
„Wow, sieht ja beinahe danach aus, als wärst du da deiner Fylgja begegnet. Und, hast du sie danach nochmal wieder gesehen? Ich meine so in der Stadt?“
„Nein, ich hab dieses Mädel bisher noch nie bei uns im Ort gesehen und nachher natürlich auch nicht. Aber dennoch schien sie mir sehr vertraut zu sein.“
„Ja, da scheinst du wohl eine sehr mächtige zu haben. Glückwunsch! Schau mal, wir sind gleich da. Ich sehe die Steine schon.“
Die beiden gehen gerade eine Biegung entlang. Man kann durch die blätterbehangenen alten Bäume bereits einen kleinen Blick auf Simones angepeilte Ziel werfen.
„Trägst du Schmuck?“, fragt sie.
„Nein, eigentlich nicht. Hab auch keinen. Ich bin kein direkter Schmuckfan.“
Simone legt einen Zahn zu, wie man so schön sagt.
„Och Simone, renn doch nicht so!“
„Doch, komm schon Jan!“
In der Zwischenzeit zerbrechen sich die etwas zurückliegenden Jungs den Kopf.
„Was meint ihr“, wirft Mario ein, „Ist Simone wirklich eine Heidin? Ich meine so mit Riten und so?“
„Meinst du, sie wird Jan noch heute irgendeinem Satan Opfern? So mit gaaanz viiieel Blut und so?“
Dabei macht Dirk mystische Fingerbewegungen.
„Ich habe mal ‘nen Film gesehen…“
„Nö, nicht schon wieder diese Schote. Daniel und seine Filme“, unterbricht Alex.
„Ja, mal im Ernst. Da war ´ne Hexe, die hat ihren Freund gegessen nachdem sie ihn geopfert hat.“
„Deine Eltern zeigen dir auch alles, nur damit du endlich einschläfst, oder?“, lacht Dirk.
„Komm wir setzen uns da vorne auf die Bank und warten mal ab was passiert. Wir könnten ja da hoch klettern, aber dazu hab ich bei dieser Hitze überhaupt keinen Bock.“
„Du brauchst doch eher ´ne…“
„´Ne Ziege, ich weiß Ingo“, unterbricht ihn Dirk genervt.
„Guckt mal“, ruft Mario, „da vorne sind Jan und Simone wieder.“
„Wo“, ruft Dirk.
„Na da vorne, da zwischen den Steintürmen, dadada da.“
„Ja, beruhige dich doch erst einmal, Junge“, meint Alex.
„Was machen die denn da?“
„Keine Ahnung Dirk, wir schauen mal. Wir haben ja hier den idealen Platz. Gugst du!“
„Ich Gug!“
Die beiden Betrachtungsobjekte gehen den kleinen Weg zwischen den mehr als 40 Meter hohen Felsbrocken der Externsteine entlang und Simone kommt aus dem schwärmen kaum heraus. Sie war bisher auch noch nie hier und hat sich nur durch Erzählungen von diesem Ort ein Bild machen können.
„Ich wollte immer mal zur Walpurgisnacht oder der Sommersonnenwende hier hin, das soll atemberaubend sein“, meint sie. „Viele heidnische Gruppen feiern zu diesen Zeiten hier ihre Jahreskreisfeste.“
„Simone?“, Jan schaut sie an, „Frank kam vorhin in unsere Stube, pöbelte mal wieder herum. Als ich dazwischen ging meinte er zu mir: >Du mit deiner Heidin<. Woher weiß der das eigentlich?“
„Ach, weißt du, ich war mal mit dem eine kurze Zeit zusammen.“
„Was, du?“, geht Jan dazwischen.
„Ja. Ist aber schon ein Jahr her. Ich habe es aus ganz bestimmten Gründen beendet. Er scheint wohl bis heute nicht darüber hinweg gekommen zu sein.“
Sie setzen sich auf eine Wiese mit perfektem Blick auf das Felsengebilde von Horn.
„Du warst mit diesem Penner zusammen? Das habt ihr aber schön vertuscht. Das wusste keiner von uns. Zumindest soweit ich das weiß. Wieso ging es schief?“
„Du hast mir doch heute Morgen eine Frage gestellt. Bezüglich brauner Gülle und so.“
„Ja, warum?“
„Das muss jetzt aber erst einmal unter uns bleiben, Jan. Frank und Markus gehören dieser Brühe an.“
„Was? Das ist nicht dein ernst, oder?“
„Doch, und ich sagte dir ja bereits, ich möchte nichts damit zu tun haben. Deswegen ging‘s halt schief.“
„Weshalb bist du dann überhaupt erst mit dem zusammen gekommen?“
„Ich wusste es anfangs noch nicht. Das hat sich allerdings schnell geändert. Ich suchte halt Kontakt zu Leuten, die dieselben Interessen haben und da kam ich an Frank. Nun ja, dass er die nordische Mythologie nur missbraucht, war auf Anhieb nicht zu erkennen. Aber nun Schluss mit diesem Fatzken.“
Simone schaut von ihrem Rasensitzplatz rüber zu den Felsen und schweigt eine Weile.
„Du bist wirklich fasziniert davon, oder?“
„Ja. Es ist einmalig. Man spürt hier förmlich die enorme Kraft der Götter.“
Jan kratzt sich nachdenklich am Kopf.
„Wenn du das sagst. Ich bin auch ein wenig aufgeregt. Das scheint aber nicht an deinen Göttern zu liegen.“
„Nein? Woran denn dann?“
Sie rückt etwas näher an ihn heran, nimmt seine Hand, legt sich auf den Rasen und schließt die Augen. Jan kann es nicht fassen. Er sitzt hier in der Nähe von Detmold an einem Ort, den seine Großmutter wohl nicht mal im Traum besuchen würde und hält die Hand von Simone. Ebenfalls legt er sich hin, ihre zarte Hand fest im Griff.
„Erst einmal Kraft tanken, oder?“
„Ja genau. Tankst du mit?“
„Natürlich“, antwortet Jan. Simone lächelt leicht.
Die beiden liegen nun da und hören den Geräuschen zu, die sich über den Ort ergießen. Es ist zwar relativ voll heute, dennoch bekommen die beiden kaum ein klares Wort der anderen Passanten mit. Nur das Rauschen der Blätter und das Zwitschern der Vögel nehmen sie gezielt war.
„Weist du was über Thor?“ unterbricht sie nach kurzer Zeit die Ruhe.
„Nur den Namen.“
„Es ist