1 Jahr und JanuS. Karin Szivatz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karin Szivatz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742769374
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Makato’s herrscht ein gedämpfter Lautpegel. Dennoch erscheint er mir in Verbindung mit dem hohlen Geräusch der Metallpfannen als zu laut. Ein Koch verspritzt (unabsichtlich?) Öl oder anderes leicht Entflammbares und eine Stichflamme schießt unter der Pfanne hervor. Der Koch nimmt es gelassen und seinen Kopf um keinen Zentimeter nach hinten. Die Flammen erschreckten mich, obwohl sie nicht an meinem Körper geleckt hatten.

      Mit klopfendem Herzen setze ich mich und widmete meine Aufmerksamkeit den vorbeiziehenden Köstlichkeiten. „Nein danke,“ sage ich zum immer freundlichen Kellner, den ich seit Jahren kenne, „ich erwarte noch jemanden.“ Im Rückwärtsschritt entfernte er sich mit einer diskreten Verbeugung. Gespielt oder anerzogen? Naturdevot veranlagt? Was denkt er wirklich? In welchen Bahnen denkt ein Japaner, der seit Ewigkeiten im Lügen- und Scheingeflecht der Mitteleuropäer lebt?

      Ich gebe mir ebenso wenig Antwort darauf wie er, denn Sonja kommt und strahlt. Sie freut sich über die Einladung sowie über die Abwechslung von ihrem bereits dreiundzwanzigjährigen Hausfrauenundmutter-dasein. Immer wieder frustriert weil ohne Ziel und doch handlungsunfähig hofft sie auf eine automatische Erfüllung von außen. Derzeit führt sie sich eine Ersatzerfüllung viel zu häufig selbst zu, indem sie ihren Magen füllt. Und füllig geworden ist. Wenn sie richtige Erfüllung erfahren hat, so behauptet sie zubindet, braucht sie diese Nahrungsfüllung nicht mehr. Dann wird sie schlank sein. Für immer und ewig. Amen.

      Die Schuld an ihrem Übergewicht gibt sie ihrem Mann. Den Kindern. Dem Haushalt. Sie alle haben ihre Entwicklung verhindert. Das würde sie frustrieren. Und den Frust kann sie am besten mit Essen bekämpfen. Sie füllt ihr Defizit, ihre innere Leere mit Essen auf. Und doch ist sie niemals satt. Denn sie weiß auch nicht, was anstatt der Leere oder dem übermäßigen Essen in ihr sein sollte. Sie hat keine Ahnung, was sie entwickeln hätte können. Ihr Talent, das sie niemals gefunden hat, ihre ganz persönlichen Interessen, die sie niemals kennen gelernt hat, ihre Neigungen und Begierden. Sie alle blieben unentdeckt; bedeckt von zwei Kindern, einem Ehe-mann, einem Hund und einem Haushalt.

      Ich kenne diese Geschichte seit langem und deshalb reden wir nicht darüber. Sie fällt mir nur immer wieder ein, wenn ich sie sehe. Eigentlich reden wir gar nicht, sondern stürzen und über Sushi, Maki und Co. Die Köstlichkeiten ziehen in zwei Etagen an uns vorbei und vieles davon wandert auf unseren Tisch. Nach dem ersten leichten Anflug eines Völlegefühls verlangsamen wir das Tempo und beginnen zu reden. Die Gesprächsthemen sind so banal wie das Essen und somit vollkommen passend.

      Aber als das erste gebratene Stück Lachs mit Mayonnaisesauce anrollt, frage ich sie, was sie tun würde, wenn sie nur noch ein Jahr zu leben hätte. Ohne sie dabei anzusehen natürlich, denn ich musste schließlich den ersten Lachs des Tages angeln.

      „Hmmm“, meinte sie gedankenverloren. „Wahrscheinlich das Leben genießen.“ Sie starrte weiterhin auf das kleine Förderband, denn sie war bereits satt genug um schon wählen zu können.

      „So wie wir das jetzt machen?“, frage ich und beeile mich diese Worte auszusprechen, denn der heiße Duft des rosafarbenen Lachses lässt meine Speichelproduktion aufflammen.

      „Nein, nicht so. Oder ja, auch. Aber nicht nur“, raunte sie. „Vielleicht reisen und auf Parties gehen. Freunde treffen und gut essen. Viel Sex haben, weil ich mir dann um AIDS keine Gedanken machen müsste. Arbeiten würde ich jedenfalls nicht mehr gehen.“

      Ich nehme den intensiven Lachsgeschmack auf meiner Zunge wahr und hatte gleichzeitig die Bitterkeit ihrer Worte im Mund. Langsam rekapitulierte ich: sie würde essen gehen, sich mit Freunden treffen, nicht arbeiten und viel Sex haben. Genau das machte sie jetzt auch. Nur das Reisen fällt weg, weil sie ein Wochenendhaus in Tschechien hat. Aber eigentlich zählt das auch in gewisser Weise als Reise. Sie lebt, als hätte sie nur noch ein Jahr zu leben und doch beschwert sie sich ständig über ihr tristes Dasein. Wird es erst dann wertvoll, wenn wir im Begriff sind, es zu verlieren? Wenn wir wissen, dass es zu Ende geht?

      Schwermut haftet am nächsten Bissen Lachs und ich holte ihn wieder aus dem Mund. „Eine Gräte,“ lüge ich und stellte den kleinen Teller mit dem mit Schwermut beladenen Fisch zum Abräumen an den Tischrand.

      Die nächste Stunde essen wir weiterhin viel mehr als wir reden und sitzen letztendlich vollgefüllt bis an den Rand auf unseren Sesseln und können nicht mehr atmen. Wie fühlen uns mies und wünschten beide, wir hätten nicht so viel von den Köstlichkeiten in uns hinein gestopft. Und der Besitzer des Restaurants denkt sich wohl genau in diesem Augenblick das gleiche. „Ich würde mich nicht wundern, wenn nächstens auf der Eingangstüre ein Plakat mit unseren Fotos ‚Wir müssen draußen bleiben’ hängen würde.“ Selbst das Lachen fiel uns schwer.

      Wir unterhielten uns noch eine Weile über unsere Ehen und Liebschaften und gingen dann wieder auseinander. Die Unterhaltung hatte gut getan; und das Essen auch. Es war Freundschaft, gutes Essen. Ein Genuss, den man sich bewusst gönnt, wenn man nicht mehr lange zu leben hat. Hat man noch die stundengezählte Unendlichkeit vor sich, ist es eine Routineangelegenheit; Einstein hatte eindeutig relativ Recht.

      Als ich heim komme, habe ich noch immer jene Zufriedenheit in mir, die die Blutleere in meinem Kopf durch das übermäßige Essen mit sich führt. Müde lege ich mich auf das Sofa und kippe recht bald ins Land der Träume, obwohl ich ein Buch lesen wollte. Mein Mann fand uns drei, den Hund und die Katze und mich, am späten Nachmittag im Wohnzimmer vor.

      Gleichzeitig mit dem Aufwecken legte er mir eine große Bürde auf. Die Bürde, ihm von meiner Diagnose zu erzählen.

      Während er mir von den Ereignissen seines Tagesablaufes erzählt, überlege ich, wie ich beginnen sollte.

      An sich war mir das Reden noch nie schwer gefallen, doch im Moment scheint mir jeder Anfang nicht passend zu sein. Hubert ist ein äußerst sensibler Mann, der blitzschnell Gefühle sowie falsche Wahrheiten in sich einschließen kann.

      Die anfängliche Wortwahl entscheidet, ob er seinem Gesprächspartner auf dem richtigen Weg folgt oder ob er einen völlig anderen einschlägt. Und in diesem Falle war es mir natürlich überaus wichtig, dass wir den gleichen Weg einschlagen. Meinetwegen, nicht seinetwegen.

      Während er die Kaffeemaschine in Gang setzt rufe ich ihm mein Anliegen in die Küche nach. Wahrscheinlich hatte ich vor seinem entsetzten Blick an, wenn er in meiner Nähe gewesen wäre. Durch den Lärm der arbeitenden Kaffeemaschine hat er nur Bruchstücke davon verstanden, weiß aber im Prinzip, worum es geht. Durch die klein räumliche Distanz haben wir beide Zeit um uns auf das weiterführende Gespräch vorzubereiten; wenn auch nur wenige Sekundenbruchteile.

      Fahl im Gesicht und mit offenem Mund kommt er leicht gebückt ins Wohnzimmer zurück. „Was ist mit dem Befund?“

      „Ja,“ sage ich, „es ist so.“

      Er setzt sich und fährt sich mit beiden Händen durch sein volles Haar. Dann über die Augen und versucht anschließend, Leben in sein Gesicht zu massieren. „Wie schlimm ist es?“

      „Pankreaskarzinom. Bauchspeicheldrüsenkrebs. Das Stadium ist hierbei unwichtig. Nur fünf Prozent aller Betroffenen überleben. Und ich war noch nie ein Kind des Glücks.“

      Ich wundere mich, dass Tränen über meine Wangen kullern, denn ich weine gerade nicht. Ich spreche nach wie vor von einem fremden Körper, der Krebs hat. Und doch war da jetzt so etwas wie Schmerz in meinem Inneren, den ich bis jetzt nicht verspürt hatte. Es war wohl der Schmerz, meinem Liebsten wehtun zu müssen.

      Aus meiner langjährigen Tätigkeit am Krankenhaus wusste er über Bauchspeicheldrüsenkrebs schon recht viel. Und das reicht auch für den Moment. Noch mehr Wahrheit kann er nicht ertragen, weil es dieses Mal mich betrifft.

      „Wie geht’s jetzt weiter?“ fragt er tonlos und ich schwenke mit starrem Blick den Kopf langsam von links nach rechts und wieder zurück. „Ich habe keine Ahnung“, sage ich und meine es gar nicht so.

      Denn irgendwie spüre ich, dass in meinem Innersten das Wort ‚Kapitulation’ in dicken Lettern geschrieben steht.

      Die Antwort ‚ich warte auf das Ende’ pocht wie der Herzschlag in meinem Gehirn und fühlt sich gut