1 Jahr und JanuS. Karin Szivatz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karin Szivatz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742769374
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      Je realer ich jedoch den Betrieb sehen konnte, desto weiter entfernte ich mich von meinen PatientInnen. Letztendlich machte ich nur noch Nachtdienste und kümmerte mich beinahe nur noch um medizinische Belange. Den menschlichen Kontakt zu all dem Leid, den Krankheiten, den Verstümmelungen und den psychischen Gräueltaten, die auf mich einschlugen, konnte ich nicht mehr aufrecht halten.

      Als ich meinem Chef mitteilte, dass ich mir ein paar Tage frei nehmen würde, hatte ich bereits unzählige Maschinen zwischen mich und den Patienten geschoben.

      Ich war auf einer Intensivstation tätig, auf der die meisten Patienten im (künstlichen) Tiefschlaf lagen. Sie wurden beatmet, künstlich ernährt und hochwissenschaftlich versorgt. Der zwischenmenschliche Part fiel so gut wie aus.

      Erst später erkannte ich, dass ich zu diesem Zeitpunkt bereits völlig ausgebrannt war, mir aber noch immer ein lächelndes Gesicht im Spiegel entgegensah und mir sagte ‚selbst wenn du alles gibst, ist es nicht genug. Niemals genug. Nie genug.’

      Ich komme nach Hause. Eine Glühbirne im Vorzimmer ist tot. Ausgebrannt. Ohne Saft. Sie kann niemandem mehr etwas zeigen. Nur noch hängen und schweigen. Ich muss sie ersetzen, denke ich so nebenbei. Was tot ist, wird ersetzt. Auch ich. Irgendwann. Bald.

      Die Katze ist lästig und streift unentwegt um meine Beine. Sie freut sich nicht, dass ich nach Hause gekommen bin: sie freut sich, dass ich da bin um sie zu füttern. ‚Eigenwilliges Biest’, benenne ich sie stumm für mich und schaufle Futter in ihre Schüssel. Ohne mich anzusehen stürzt sie sich über den schlecht riechenden Inhalt der Dose, schmatzt und schüttelt heftig ihren Kopf. Kleine Reste des braunen, klebrigen Zeugs fliegen durch die Gegend und ich nehme rasch ein Stück Küchenrolle um sie wegzuwischen ehe sie eintrocknen.

      Eigentlich wollte ich meine Schuhe ausziehen, doch der Hund tanzt unentwegt um mich. Mit seinen Krallen klickt er ständig am Melan und es macht mich rasend. Er wird nicht zu Klicken aufhören ehe ich mit ihm spazieren war. Also ziehe ich meine Schuhe nicht aus, wie ich es wollte sondern lasse sie an und nehme die Leine. So wie der Hund es will. Dann gehen wir. Ich leine ihn nicht an, weil mich das Gezerre am Arm nervt. Der Hund ist gut drauf und läuft weit weg. Ich rufe ihn, doch er reagiert nicht. Er hat bekommen, was er wollte und ignoriert, was ich will. Schon nach kurzer Zeit drehe ich um. Das Gehen freut mich nicht. Der Hund folgt mir, jagt dann an mir vorbei in Richtung Haus. Verärgert rufe ich nach ihm. Er soll gefälligst mit mir nach Hause gehen, denn seinetwegen bin ich überhaupt unterwegs. Doch es kümmert ihn nicht. Kraftvoll läuft er voraus und ich mache mir nicht die Mühe, noch ein Mal zu rufen oder ihm nachzuhetzen. Soll er doch unter ein Auto kommen, denke ich und schlendere dann gedankenfrei zurück.

      Auf den weißen Fliesen hinterlässt der Hund schmutzige Abdrücke. Eigentlich habe ich keine Lust, sie wegzuwischen, hole aber dennoch den Mopp und feuchte ihn an. Wenn sie eintrocknen habe ich mehr Arbeit als jetzt. Also erledige es gleich.

      Noch während ich wische und noch immer meine Schuhe anhabe, springt der Hund erneut. Jetzt hat er Hunger. Mit einem verzweifelten Seufzer gebe ich auch ihm etwas Futter in seine Schüssel. Auch er ignoriert mich auf der Stelle und sieht nur noch das Fleisch. Nett, denke ich und ein Mundwinkel zieht sich hoch. Fleisch ist wichtiger als ich, obwohl ich auch Fleisch bin.

      Es ist nicht mein Hund, es ist nicht meine Katze und dennoch. Ja, dennoch habe ich die Verantwortung übernommen. Ohne gezwungen worden zu sein. Die Tiere geben mir nichts, verlangen aber viel. Ich komme mir benutzt vor. Ausgebeutet. Des Lebens beraubt. Witziger Weise von Tieren. Und vom Haushalt. Unendlich viele Stunden habe ich in sie gesteckt und was dafür bekommen? Ein Hamsterrad. Eine Sisyphusstelle auf Lebenszeit. Und jetzt ist die Lebenszeit bereits beschränkt. Wie viele Jahre mehr hätte ich leben können, hätte ich mich weder um die Tiere noch um den Haushalt gekümmert? Ich wäre garantiert nicht älter geworden, aber ich hätte länger gelebt.

      Der Klingelton meines Handys reißt mich aus den Gedanken. Nicht schon wieder er! Ich will jetzt nicht reden. Nicht mit ihm. Vielleicht auch nicht mit jemand anderem, keine Ahnung. Schlechtes Gewissen schleicht sich ein. Gar nicht leise, sondern rotzfrech und laut. Versucht, sich einzunisten. Schnell lasse ich mir eine Ausrede einfallen und kicke es damit an den Rand meiner Wahrnehmung. Ganz vertreiben lässt es sich nicht. Noch nicht.

      Immerhin habe ich eine tödliche Diagnose erhalten, also brauche ich jetzt nicht abzuheben um mich weiteren Problemen zu stellen. Das eine hat zwar mit dem anderen nicht direkt zu tun, aber als Ausrede passt es wunderbar.

      Der Haushalt tippt mich an. Er wünscht, erledigt zu werden um danach ruhen zu können. An sich bräuchte ich jetzt Zeit zum Ruhen. Die Überforderung gibt dem schlechten Gewissen einen Tritt und macht sich breit. Ja, sagt sie, du brauchst jetzt Ruhe. Und gleichzeitig schrillt ein gellender Alarm. Du hast nicht unbegrenzt Zeit. Nutze sie noch. Ruhen kannst du noch lange genug – sehr bald sogar!

      Okay, sage ich zum Alarm, und wie soll ich die restliche Zeit nutzen? Mein Leben war verschwendet, wenn ich es von meinem jetzigen Standpunkt aus betrachte. Zu oft habe ich nach den Gefühlen anderer getrachtet. Ich wollte so fühlen wie sie und hatte meist den Eindruck, nicht die gleiche Intensität erlebt zu haben. Und jetzt frage ich mich, ob man dessen eigentlich fähig sein kann. Die Gefühle anderer empfinden. Jeder hat doch seine eigenen Gefühle, oder nicht? Und sie haben ein gewisses Spektrum. Vielleicht habe ich sogar intensiver gefühlt und jene, die ich beobachtet hatte. Sie konnten es nur vielleicht ganz anders zeigen. Vie übertriebener, exponierter. Wieso fällt mir das eigentlich erst jetzt auf?

      Der Staubsauger verperrt mir den Weg und mahnt mich, ihn zu benutzen. Der Saugarm zeigt auf all die Wollmäuse und Hundehaare, die er gerne vertilgen möchte. Aber ich habe vom Füttern genug. Erst die Katze, dann den Hund, danach mein Hirn; jetzt reicht es. Keinen vollen Magen für den Staubsauger. Jetzt nicht. Vielleicht später. Oder morgen. Oder irgendwann. Oder auch gar nicht mehr. Ist das wirklich wichtig?

      Mein Buch liegt am Tisch. Ein paar Seiten habe ich noch zu lesen. Wenn ich damit fertig bin, beginne ich mit dem nächsten. Und das Alte ist rasch vergessen. Selbst wenn ich qualitativ Hochwertiges lese, drängt sich dennoch die Quantität dazwischen. Es müssen viele Bücher sein, die alle schnell durchforstet werden. Immer gierig nach dem nächsten und nächsten. Als ob ich nicht einem einzigen Buch so viel entnehmen könnte wie einer großen Anzahl, wenn ich es nur zelebrieren würde. Die Informationen, die die Buchstaben vermitteln, sind so gut wie nie brauchbar.

      Sehr wohl aber die Zusammensetzung der Buchstaben an sich. Wie verkannt Buchstabenverbände doch sind!

      Der Befund des Arztes liegt neben dem Buch am Tisch und ich frage mich, weshalb ich hier über alles Mögliche nachdenke, nur nicht über ihn.

      Eine große, weiße Röntgentasche, die doch viel mehr um Aufmerksamkeit buhlt als mein kleines, dunkelgraues Taschenbuch. Das weiße Kamel und die graue Maus. Wir sind beide im Schatten des weißen Kamels; mein Taschenbuch und ich. Beide grau und unbeholfen. Abgelegt und dominiert. Wie gerne würde ich den Befund ablegen und dominieren. Aber ich weiß, dass er der Mächtigere ist. Illusionslos durchsuche ich den Kühlschrank nach Essbarem. Nur aus Gewohnheit, so, wie ich es beinahe mein ganzes Leben lang gemacht habe. Ich habe das Essen benutzt, so wie ich benutzt werde. Ein fairer Deal? Ich weiß es nicht.

      Mit Nichts in der Hand und einem Bissen sehr kaltem Streuselkuchen schließe ich den Kühlschrank. Er hat nichts Neues zu bieten. Er surrt in vorgegebener Monotonie dahin und lässt alles in sich hinein. Egal, was kommt, er kühlt es runter. Und er kühlt es so lange runter, bis es ihm wieder entrissen wird. Jahrein, jahraus. Bis zu seinem Ende.

      Der Streuselkuchen erwärmt sich rasch in meinem Mund. Heimelige Süße breitet sich in der Zwischenstation aus. Viel zu kurz ist die Verweildauer in dieser Zwischenstation. Wir essen doch des Genusses wegen und meist nicht, um unseren Magen zu füllen. Weshalb verweilt dann das Stück Kuchen im Mund, im für uns wichtigsten Teil des Verdauungstraktes, nur so kurz? Im Magen bleibt es schon länger, aber davon haben wir keinen Genuss mehr. Und wird es erst im Darm langsam und gemächlich weitergeschoben, können es ebenfalls nicht mehr genießen.

      Aber die Entledigung des Kuchenstücks ist für so manchen ein Genuss – wenn die Entledigung erfolgreich und unbeschwerlich und unblutig endet.