Einige Tage ging es so fort mit dem Klettern. Tim kam aus der Schule, erledigte in Rekordzeiten seine Hausaufgaben, lernte dann und wann ein Gedicht beim Geschirrabwaschen und traf sich mit Tobi in der Humboldtstraße. Zweiundvierzig Eichen war er in wenigen Tagen ins Geäst geklettert. Seine Hände und Beine waren zerschrammt, eine Hose zerschlissen. Auf vier oder fünf Bäume war Tobi seinem Freund gefolgt. Doch nach dem ersten Riss in seiner Hose und dem endlosen Abendvortrag seiner Mutter über Hosenpreise und über die Rücksichtslosigkeit gewisser Jungen, wurde ihm Tims Dickköpfigkeit zu anstrengend. So saß er meistens unter den Bäumen, sammelte die braunen Eicheln des Vorjahres, setzte ihnen ihre verlorenen Hüte auf, oder warnte Tim vor trockenen Ästen und Zweigen. Gewiss hätte Tim noch jeden Wipfel der Humboldtstraße erstiegen, gäbe es nicht so viele andere wunderbare Erlebnisse, die ihn begeisterten, wie Fußballspielen, Raketen basteln, aus Wasser, Salz, Pfeffer und Puddingpulver ein Hexengift erfinden, Fahrradputzen, und wären die Großeltern an den Wochenenden nicht wie alljährlich mit ihm in ihren Garten am Rande Berlins gefahren. Ein Trost nur, dass Tobi häufig mit ihm fuhr.
Der Garten war kein gewöhnlicher Obst- und Gemüsegarten. Er stand umrandet von hohen Birken, Kiefern, Douglastannen und Serbischen Fichten. Haselnusssträucher trennten den vorderen, robusten Fußball-rasen, vom hinteren Garten, in dem ein prächtiger Apfelbaum stand. Zwei uralte Landsberger Apfelbäume hatte Großvater ausgegraben. Einen ebenso alten Birnbaum der Sorte “Gute Luise” aber hatte er stark entholzt, ihm die Äste gestutzt und für Tim als Kletterbaum stehen gelassen. Wie wunderte er sich zwei Jahre später, als frisches Grün an den Stümpfen des Baumes Blüten trug und im Herbst so viele Birnen, wie noch in keinem seiner Jugendjahre. Da Tim und Tobi immer mit dem Kopf voller Baupläne durch den Garten streiften, fanden sie für jedes Material, das der Großvater besaß oder fortwerfen wollte, Verwendung. Rostige Nägel, Bindfäden jeder Art und Länge, selbst trockene Zweige sammelten sie und nutzten sie für ihre Bauwerke. Die beiden Landsberger verwandelten sich flugs in ein Piratenschiff, welches mit seiner schwarzen Flagge und den beiden berühmten Seeräubern “Tim Eisenhand” und “Tobias Enterbeil” sämtliche Seeleute der Weltmeere des hinteren Gartens in Angst und Schrecken versetzte. Vor allem, und das lag an der ewigen Flaute in diesen Gartengewässern, kam Tim und Tobi auf ihren Baumschiffen eine neue bewegtere Idee. Ein Gartenwochenende später ging es los. Es war der sechzehnte April. Sie heuerten ab vom Piratenschiff, überließen den Rest der Mannschaft und das Schiff ihrem Schicksal und zogen als Jäger in die gestutzte Gute Luise. In die äußersten Äste ihrer Spitze zimmerten sie sich aus alten Brettern, Ästen und Zweigen einen Hochstand. Dort saßen sie und blickten stundenlang in die umliegenden Wälder aus Zaunhecke, jungen Kiefern und Brombeergestrüpp, und turnten Eichhörnchen durch die Bäume, tschilpten Spatzen in der Nähe, schossen sie Rehe und Hirsche, und als des Nachbars schwarzweiße Katze durch den Garten schlich, auch einen Luchs. Tobi war dafür gewesen, die Katze für einen Leoparden zu halten, doch Tim wollte bei heimischem Wild bleiben, wie er sagte. In Jagdpausen, dann, wenn sich kein Wild zeigte, schauten beide sehnsuchtsvoll hinunter aufs Meer, und wären gern wieder aufs Schiff umgestiegen. Doch es lag so unbeweglich und still. Könnte es doch ein klein wenig schaukeln, nur ein bisschen schwanken, dachte Tim. Es braucht ja nicht wirklich fahren, nur ein wenig schwanken. Wie auf echtem, nassem Wasser. “Ein richtiges Schiff auf dem Meer müssten wir haben”, seufzte er. “Ein richtiges Schiff?!”, sagte Tobi. “O, ja. Aber das erlaubt mein Vater nie.” “Na, es kann ja ein kleines Schiff sein”, meinte Tim. Ein Boot. Ganz für uns allein.” “Ein Boot ist zu teuer”, sagte Tobi. “Und aufs Meer dürfen wir in hundert Jahren nicht.” “Aufs Meer brauchen wir ja nicht, aber auf richtiges Wasser. Und - es kann ja ein kleines Boot sein, weißt du.” Tim blickte auf das verlassene Piratenschiff, und seine Augen begannen zu glänzen, als er sagte: “Weißt du ..., zehn Baumstämme nebeneinander.” “Ein Floß?!”, flüsterte Tobi, “ja, das wär’ schön.” “Mit einem Floß auf dem Murmelsee – mit Micha, Mücke und Struppi”, träumte Tim laut. “Eh, Alter”, sagte Tobi staunend, “die beste Idee, die ich kenne.” Tim wollte das Bild dieser Idee sogleich vor sich sehen. Rasch stieg er vom Hochstand, holte aus dem Gartenhäuschen Papier und Bleistift und begann seine Vorstellungen aufzuzeichnen. Tobi war ihm neugierig gefolgt und bestaunte die Skizze, die ein Floß darstellte. Sie begannen nun, die Jungen ihrer Klasse als Mannschaft auf das Floß zu verteilen und schrieben ihre Namen auf das Blatt. Auf der Rückseite notierten sie notwendige Materialien für den Bau und die Fahrt des Floßes. Als sie sich über Länge und Breite des Floßes geeinigt hatten, blickten sie stolz auf die Zeichnung. Dann stiegen sie eilig wieder auf ihr Apfelbaumschiff, welches geduldig vor den Pfirsichbäumchen ankerte. Tobi, vorn, wirbelte das Steuerrad aus zwei gekreuzten Tomatenstangen, als wäre es ein Propeller und könnte mit dem Schiff fortfliegen in seine Träume. Tim, hinter ihm aufgerichtet auf einem Gartenstuhl, kommandierte: “An die Segel, Matrosen! Beeilt euch! Wir sind die Erforscher auf dem Krummen Fließ. Steuermann, Backbord! Es gibt Sturm! Gleich fahren