Matthija war sehr schüchtern. Diese Eigenart hatte er von seinem Vater Uwe übernommen. Er wirkte insgesamt schmächtig, zurückhaltend und still. Aber auch er zeigte uns Erwachsenen gegenüber keinerlei Distanz. Claudia und er ließen sich jeden Morgen in den Kindergarten bringen, sie waren gleichaltrig.
Mit all diesen Leuten lebte ich, Paulo Köhler, in der Wohngemeinschaft zusammen und fühlte mich sehr wohl dabei. Ich glaubte, dass uns damals so mancher um unsere Lebensweise beneidet hatte. Es war nicht immer sehr sauber bei uns, aber darauf kam es doch nicht an! Unser Haus war schon relativ alt. Das Treppenhaus gab knarzende Geräusche von sich, wenn jemand herauf- oder hinunterging. Besonders wenn zum Essen gerufen wurde und die Leute vom Tischtennisraum heruntergetrampelt kamen. Lutz trampelte mit seinen Bundeswehrstiefeln besonders laut.
Die Musik spielte bei uns eine besondere Rolle. Dieter spielte Gitarre, Lutz Kongas, jeder hatte einen Plattenspieler. Und im Gemeinschaftsraum dudelte immer eine Platte. Da, wo wir aßen, stand ein Radio. Wir hörten um neunzehn Uhr immer „Popshop“ auf „SWF 3“ mit Frank Laufenberg. Oben bei Dieter gab es Bob Dylan, sehr angesagt waren aber auch Crosby, Stills Nash & Young, Leo Kottke, Stephan Grossmann, Werner Lämmerhirt. Im Gemeinschaftsraum liefen aber auch Heads, Hands and Feet, Neil Young, Rolling Stones, Beatles, Led Zeppelin, Derek and the Dominos und Pink Floyd. Wir hingen dort oft nachmittags rum und redeten und redeten. Oft kam irgendjemand zu Besuch und trank mit uns Kaffee oder Bier. Sehr häufig kamen Frieder und Jutta, Dieter und Susanne aber auch Opa. Der ließ sich ein Bier geben und legte sich dann bis zum nächsten Morgen aufs Sofa. In der Mensa wartete er, bis er drei Gesinnungsgenossen zum Doppelkopf zusammen hatte, soff dann mit denen bis zum Mittag Bier und kam dann wieder zu uns. Natürlich spielten auch die Eagles und John Denver bei uns eine Rolle. Mimo spielte mit Vorliebe die paar Barreegriffe zu John Denver´s „Country Roads“, der letzte Schmalz. Er war der Sohn des Hausmeisters der „Puddingschule“ und hatte eine „Kastenente“, etwas ganz Besonderes.
Wir fuhren manchmal alle hoch zum Landeskroner Weiher, badeten und machten Musik. Wir hatten dann Wein dabei und rauchten Gras. Mit uns fuhren auch viele Mädchen, die wir inzwischen kennengelernt hatten, vor allem Gabi, Annette L. und Dagmar.
Mit der Ente musste man auf dem letzten Stück zum Weiher hoch den zweiten Gang einlegen. Auf dem Weg nach Wilnsdorf kam man an der Eremitage vorbei, wo wir schon mal Bier auf der Terrasse getrunken hatten.
Das Studium vollzog sich trotz aller Eskapaden in geordneten Bahnen. Ich hatte sogar ein Urlaubssemester eingelegt. In dieser studienfreien Zeit spielten wir oft Karten und tranken den Apfelwein von Lutz. Entsprechend lange schlief man danach. Mein Urlaubssemester war ein Wintersemester, es wurde kurz nach dem Aufstehen schon wieder dunkel. Legendär waren unsere Kneipengänge. Kneipen, die bei mir eine Rolle spielten, waren das „Black & White“ nebenan, das Ulli, Stephan und ich mit aufgebaut hatten. Schnüffi und Porky hatten ein altes Siegerländer Haus gekauft und es völlig entkernt. Das Fachwerk im Innern blieb erhalten und wurde aufwendig saniert. Die Kaffeekanne, die ich jeden Morgen auf die Baustelle trug, habe ich heute noch. Nach ganz kurzer Betriebszeit brannte das „Black & White“ ab. Böse Zungen sprachen von Brandstiftung.
Etwas weiter weg war das „Belle Epoque“, Richtung Globus gelegen. Es bestand aus zwei Räumen, von denen der erste von einer großen Theke beherrscht wurde. Über der Theke verlief an der Decke ein Regal, auf dem aller Schnaps stand, der dort angeboten wurde. Einmal nahm ich eine Flasche, um sie mitgehen zu lassen. Sie rutschte mir aus der Hand und fiel auf den Plattenspieler. Die augenblickliche Stille verriet sofort den Übeltäter, mein Gott, war das peinlich. Hätte ich nicht schon mehrere Hundert Mark im „Belle Epoque“ für Bier ausgegeben, wäre ich mit Sicherheit rausgeflogen. Im „Belle Epoque“ traf man fast immer alle Bekannten. Wenn dort um ein Uhr nachts zugemacht wurde, gab es nicht mehr viele Möglichkeiten. Entweder ging man dann zum „Herrengarten“, zur „Siegerlandhalle“ oder ins „Studio“, das lag Richtung Eiserfeld und hatte bis vier Uhr morgens geöffnet, natürlich gab es auch noch Bier! Sonny war der heißeste Tänzer! Ich erinnere mich noch an „Woman, take me in your arms, rock me Baby“! Vor dem „Belle Epoque“ hatten Tina und ich mal mit der Stoßstange ihrer „Ente“ beim Rückwärtsfahren die Rallyelampen eines „NSU 1000“ zerstört. Als wir zu Hause waren, plagte uns das schlechte Gewissen und wir waren noch mal zurück gefahren.
In der Frankfurter Straße lag das „Chaiselongue“, das gehörte dem Langen (Peter) und Gerd. Ich hatte dort mal gezapft und bedient. Von der Wohngemeinschaft aus waren wir da nicht so oft. Ich erinnere mich, wie Alice dort ihre Hochzeit mit Ulli feierte, da wohnte ich schon in der Frankfurter Straße mit Achim und Volker zusammen. Wir waren hinterher so besoffen, dass Tina mich nach Hause bringen und sogar ausziehen musste.
Der Lange hatte mal einen tollen Witz erzählt: ob wir wüssten, wie Eskimos pinkelten? Dann ließ er zwischen seinen Beinen Eiswürfel runterfallen. Er war der Typ, der einen Witz nah dem anderen erzählen konnte. Er fuhr einen „Citroen CX Kombi“. Ich hatte ihn später aus den Augen verloren.
Manchmal bekamen wir Besuch aus Frankreich: Evelyn, Francoise, Kattel und Juanita war auch einmal dabei. Die ersten drei Mädchen hatte Dieter in irgendeinem Italienurlaub kennengelernt, Juanita hatte es mir besonders angetan. Ich hatte sie nie mehr wiedergesehen. Auch Francoise war sehr nett. Henni kümmerte sich um Evelyn und Dieter um Kattel.
Ganz kurz, bevor wir in die Wohngemeinschaft gezogen waren, hatte ich mir von Dr. Fend die Nasenscheidewand richten lassen. Ich saß in seiner Praxis in einem Stuhl, bekam zwei Betäubungsspritzen in den Nasenkorpel und musste eine Nierenschale unter die Nase halten. Dr. Fend arbeitete mit einer Art Kneifzange Knochen heraus, die tönend in die Schale fielen. Anschließend stopfte er mir Tamponade in die Nasenlöcher und steckte mich eine Woche lang in das Weidenauer Krankenhaus. Das Entfernen der Tamponade nach einer Woche war unangenehm. Eine ähnlich gelagerte HNO–Geschichte war die Erweiterung meines linken Gehörganges. Das wurde im Jung–Stilling–Krankenhaus bei Dr. Gerlach durchgeführt. Die Operation dauerte drei Stunden bei Vollnarkose, mein ganzer Kopf verschwand anschließend in einem Verband.
Ich weiß noch, wie wir zu sechst auf dem Krankenzimmer Bier tranken, Tina hatte mich immer besucht. Auch dort musste ich eine Woche bleiben.
Ich hatte an der Hochschule das Fach Kunst gegen Sozialwissenschaften getauscht, eine richtige Entscheidung. Prof. Dr. L. F. Neumann war ein angenehmer Mensch, noch sehr jung und dynamisch. Er war unglaublich intelligent und rühmte sich damit, mit Sir Karl Popper schon einmal Tennis gespielt zu haben. Damit hatte ich meine endgültige Fächerkombination. Trotz Urlaubssemester machte ich innerhalb der Regelstudienzeit mein Examen. Damals bedeutete das, dass ich nichts von dem BAFöG, das ich bekam, zurückzahlen musste! Das BAFöG-Amt war im Einkaufszentrum in Weidenau. Ich musste jedes Semester dahin und BAFöG beantragen. Ich kam damals mit ungefähr sechshundert DM aus. Das Auto war nicht teuer, Benzin kostete circa achtzig Pfennige pro Liter. Die Wohnungsmiete war lächerlich gering, ich glaube wir zahlten zweihundert DM zu Dritt! Das Essen kostete auch nicht die Welt, weil wir zusammen einkauften oder in der Mensa aßen. So blieb dann noch genügend übrig für unsere abendlichen Kneipengänge.
Die „Dose“ war früher die Anlaufstelle von Dieter und mir. Die war aber dann irgendwann zu. In der Oberstadt gingen wir manchmal ins „Zeughaus“, das lag am Schloss oder in den „Stachel“. Der „Stachel“ lag etwas versteckt in der Altstadt. Wenn man mit der „Ente“ in die Oberstadt fuhr, musste man auf dem letzten Stück der Kölner Straße den zweiten Gang einlegen. In der Oberstadt befanden sich früher die Geschäfte, die für uns früher von Belang waren. Dort oben war der „Kaufhof“, gegenüber war die „Montanus“-Buchhandlung, ein Stück weiter war das „Eiscafe Garda“, das in der oberen Etage eine Pizzeria hatte. Wenn man die Fußgängerzone hinunterlief kam man am „Schuhhaus Schreiber“ vorbei, gegenüber von „Karstadt“ lag die „Bücherei Ruth Nohl“, ganz unten war das Bekleidungshaus „Werner und Ullrich“. Dann ging man über die Straße auf die Siegplatte. Dort hatte Harald Hecken einen HiFi-Laden. Harald hatte Wasserbau studiert und machte jetzt in HiFi-Sachen. Ich hatte ihn früher mit meiner Freundin öfter besucht. Er hatte sich Lautsprecherboxen aus Beton gegossen. Die Überlegung dabei war, dass er die Eigenschwingungen