Später ging sie hinüber zu Limpes und bat ihn, sie für die Bearbeiterebene freizuschalten und ihr die erforderlichen Passwörter zu geben. Limpes fand schnell Gründe, ihr dies zu verweigern. So hatte Sarah angeblich nur schriftliche Anfragen von Leuten ohne Internetzugang bearbeitet und dazu die jedermann zugängliche Seite benutzt, die Ergebnisse ausgedruckt und zusammen mit der Rechnung an die Anfrager zurückgeschickt. Alice sollte sich bitte bis morgen gedulden, dann würde er das mit ihr besprechen.
Alice ahnte, woher der Wind wehte. Sie lachte grimmig in sich hinein, als sie daran dachte, wie sehr sie hier offenbar unterschätzt wurde. Und was passieren würde, wenn der Promoter von Ann-Louise Norwood, der einflussreiche Jonathan Berkner, eine kritische Nachfrage an die Geschäftsleitung von TODAY richten würde.
Zurück an Sarahs Platz klickte sie sich durch bis zur Anfrageseite von DATA TODAY. Dann gab sie den Namen Norwood, Ann-Louise ein. Sofort erschien die Antwort auf dem Bildschirm:
Norwood, Ann-Louise > Kein Datensatz vorhanden.
Bitte versuchen Sie es mit einer der Internet-Suchmaschinen.
Das war gut. Sehr gut, sogar! Das Suchen mit Google & Co konnte sie sich ersparen. Sie kannte die Suchmaschinenergebnisse, und sie hatte gesehen, dass ihre Kollegen wunderbare Arbeit geleistet hatten. Jetzt versuchte sie es mit Stonington, Gregory Markus. Die Antwort kam in einem Sekundenbruchteil. Es war eigentlich eine Frage:
Stonington, Gregory Markus *1959 Washington D.C.
Stonington, Gregory Markus *1983 Santa Ana Ca
Sie wählte den ersten Eintrag. Nun konnte sie die gewünschte Stufe angeben. Allerdings war im Eingabekästchen bereits ein A zu sehen. Sie gab statt dessen C ein. Das wurde nicht angenommen. Der Cursor blinkte weiter im Eingabekästchen für die Wahl der Stufe. Auch auf B reagierte das Programm ablehnend. Erst als sie wieder das A eingegeben hatte, konnte sie weitermachen. Sarah gehörte nicht zum eingeweihten Kreis bei DATA TODAY.
Das Programm teilte nun mit, dass 676 Megabytes an Daten zu Stonington, Gregory Markus, *1959, Washington D.C., vorhanden seien. Es fragte, ob sie die Daten unbearbeitet, nach bestimmten Kriterien ausgewählt oder sortiert, oder in Form eines Nachrufes haben wollte. Makaber, dachte sie und blickte - wie schon oft zuvor und möglichst unauffällig - hinüber zum Glaskasten.
Talburn war beschäftigt. Er telefonierte offenbar wenig und arbeitete selbst am Computer. Alice vermutete, dass mindestens eine, wahrscheinlich zwei der Frauen, deren Tische vor dem Glaskasten standen, seine Sekretärinnen oder Assistentinnen waren. Eine hatte ihm eine Tasse mit Kaffee oder Tee gebracht. Nur einmal hatte er den Glaskasten für kurze Zeit verlassen. Und er hatte dabei die Tür abgeschlossen.
Nach Büroschluss beeilte sich Alice, nach Hause zu kommen. Sie war müde nach dem langen Tag, wollte nur noch etwas essen und dann schlafen. In dem Diner hinter dem Parkchester Bahnhof waren um diese Zeit nur wenige Gäste. Sie bestellte einen Salat mit Geflügel, und als sie darauf wartete, hatte sie eine Eingebung. Sie holte ihr Smartphone aus der Tasche und wählte die Nummer von Alexander Norwood.
»Ja.«
»Hallo Alex, Alice hier.«
Es gab eine kurze Pause. Dann: »Hallo Ann-Louise. Wie schön, deine Stimme zu hören.«
Alice lachte so, dass er es hören konnte. »Sehr gut, Alex. Ich bin allein. Ich habe nur zwei kurze Fragen.«
»Schieß los!«
»Wer oder was sind Ferrets?«
»Das sind wieselartige Tiere. Man kann Kaninchen mit ihrer Hilfe fangen.«
»Mister Norwood!«
»Ferrets sind Spionage-Flugzeuge. Für die elektronische Erkundung. Neuerdings auch Spionage-Satelliten. Was ist deine zweite Frage?«
»Kennst du einen Jonathan Berkner?«
»Gut geraten! Was sage ich - das ist meine kluge Alice. Ja.«
»Kennst du ihn sehr gut?«
»Du hattest nur zwei kurze Fragen, Alice.«
»Okay. Ich danke dir. Auf Wiedersehen.«
»Pass auf dich auf!«
* * *
In den nächsten beiden Tagen verschaffte sich Alice beharrlich eine Vertrauensbasis bei Ronald Limpes. Ihr Charme blieb nicht wirkungslos, aber die größten Fortschritte erzielte sie mit der Bewunderung, die sie offen für Limpes’ Programmierkunst zeigte. »Wir sprechen uns hier im Büro mit den Vornamen an, Ann-Louise«, hatte er am Tag nach ihrer Ankunft gesagt. Mit der für Limpes typischen Ausführlichkeit erklärte er ihr, wie er die Datenbank von TODAY auf Einträge mit Angaben über einzelne Personen durchsiebt und damit die Grundlage für das Geschäft von DATA TODAY geschaffen hatte. Ein ganzes Jahr lang hatten dann acht Angestellte die Archive von TODAY, die damals noch im Souterrain untergebracht waren, durchgesehen und Daten über Personen in die Datenbank übertragen.
»Wo ist das Archiv denn jetzt?«, hatte sie gefragt.
»Als die Geschäftsleitung sah, wie viel Zeit und Mühe die Journalisten und Redakteure durch die Übernahme der Personendaten in die Datenbank sparten, gab sie das Geld für eine komplette Digitalisierung des gesamten Archivs. Viel Geld. Das haben dann Fachfirmen für uns erledigt, nicht wahr. Ich spreche von Dokumenten, Bildern und Zeitungsexemplaren aus über einhundert Jahren. Dann sollte das Archiv entsorgt werden, aber glücklicherweise fand sich eine Stiftung, die das Archiv komplett übernommen hat. Die sammeln alte Dokumente. Angeblich lassen die nur Wissenschaftler Einblick nehmen. Sitzen in Chicago. Unser Chef hat sich aber vorher die ersten drei Ausgaben von TODAY gegriffen. Das ist Wayne Paul Ferrentil. Kennen Sie ihn? Er ist ein ausgezeichneter Whiskykenner. Es heißt, ein Freund von ihm hat Sie an uns vermittelt. Das Titelblatt der ersten Ausgabe hängt oben in seinem Büro. In Ferrentils Büro.«
Alice zeigte sich sehr beeindruckt. Ihr Kopfschütteln genügte, um Limpes von weiteren Fragen über ihr Verhältnis zu Ferrentil abzuhalten. Er erklärte ihr, dass allein sechs der Angestellten hier im Raum ausschließlich damit beschäftigt waren, die online-Ausgaben von Zeitungen, Zeitschriften und Sendern auf Angaben über Personen zu durchsuchen. Vier Leute verfassten Nachrufe oder ergänzten bereits geschriebene Nachrufe. Auch hier hatte Limpes die Idee beigesteuert. Die Geschäftsleitung hatte ihm seinerzeit eine Prämie dafür gezahlt.
»Erst haben sie mich ausgelacht. Nachrufe für noch Lebende! Das wäre anstößig und schändlich. Die Betroffenen würden sich dagegen wehren und sogar dagegen klagen, nicht wahr. Sie kennen ja unsere Anwälte. Da geht es gleich um Millionen. Abgelehnt!«
»Und dann?«
»Dann hat Bob sich eingeschaltet. Mit Erfolg. Er kann sehr überzeugend sein. Robert Talburn. Er hat ein paar gute Regelungen vorgeschlagen, nicht wahr, die auch heute noch fast unverändert in Kraft sind. Die wichtigste ist, dass Nachrufe erst verkauft werden, wenn die betreffende Person gestorben ist. Sie können also bei DATA TODAY nicht Ihren Nachruf abfragen, Ann-Louise, ganz abgesehen davon, dass wir für Studenten ohnehin keine Nachrufe vorhalten. Oder nur, wenn sie Kinder von Berühmtheiten sind. Wir richten uns nach Bedeutung, Bekanntheitsgrad und Alter, wenn wir Personen auswählen, für die wir Nachrufe vorformulieren. Natürlich hat es sich herumgesprochen, dass wir Nachrufe mit jeder Menge Details aus dem Leben liefern, nicht wahr. Viele Zeitungen, die Radiosender und die Fernsehstationen haben darüber berichtet, teilweise in - ich sage das mal mit der gebotenen Unvoreingenommenheit - eher scherzhafter Weise. Inzwischen erhalten wir im Durchschnitt jeden Tag hundertzehn Nachrufanfragen über zweiunddreißig Verstorbene. Das ist ein sehr gutes Geschäft, nicht wahr. Und es gibt tatsächlich Leute, die an uns schreiben und uns Angaben für ihren Nachruf machen.«
Alice