Die Erkenntnisse über Talburn waren viel umfangreicher als die über Limpes. Es waren sogar zwei Bilder von Talburn in dem FBI-Dossier mitgekommen. Alice betrachte lange das Porträt. Es war zwei Jahre alt. Das zweite Bild gehörte zu einem kopierten, etwa zehn Jahre alten Zeitungsausschnitt. Alice hatte diesen Ausschnitt schon einmal beim Googeln mit Talburns Namen gefunden, ihm aber keinerlei Wichtigkeit beigemessen. Talburn stand mit einem Schiffsmodell in den Händen an einem Becken oder Brunnen. Er hatte einen Modellbaupreis gewonnen. Das FBI brachte die Kenntnisse Talburns über elektronische Steuerungen, die er in innovativer Weise bei dem Schiffsmodell angewandt hatte, in Verbindung zu seinen Hackeraktivitäten. Damit war er mehrmals während seines Parallelstudiums der Informatik an der New York University und der Computerwissenschaft an der Columbia University auffällig geworden. Er hatte einige illegale Angriffe, darunter auf die New York State Police und auf Livermore, zugeben müssen, war auch einmal zu einer Geldstrafe von sechshundert Dollar und zwölf Tagen Sozialarbeit in Philadelphia verurteilt worden. Zweimal hatte er - jedenfalls nach den Erkenntnissen des FBI - von sich aus Lücken in Sicherheitssystemen aufgezeigt. Die Firma eBay hatte ihm für den Hinweis und für seine Arbeit, die auch gleich die Beseitigung der Lücke einschloss, ein fünfstelliges Erfolgshonorar gezahlt. Im Bericht des FBI wurde mit auffälliger Betonung darauf hingewiesen, dass Talburn damit Einblicke in die gut geschützten eBay-Programme gewonnen haben musste. Vermutlich waren sie dem FBI nicht zugänglich.
Der zweite Fall war gleichzeitig mit der eBay-Sache registriert worden, aber der gesamte Absatz war bis auf das Datum geschwärzt worden. Während Alice sich hierüber einen Reim zu machen versuchte, betrachtete sie erneut das Porträt. Sie wippte es zwischen zwei Fingern, und ihre Gedanken schweiften ab auf die Zeit, die sie mit Ann-Louise im MIT verbracht hatte. Auch sie wären beinahe erwischt worden.
Am nächsten Morgen nahm sie den Regionalzug nach Manhattan, der pünktlich um 8:13 Uhr an der Penn Station ankam. Mit dem Bus - Linie 34 auf der 34. Straße, ganz Manhattan war mit diesen leicht zu merkenden Ost-West-Verbindungen durchsetzt - fuhr sie das kurze Stück zur Park Avenue. Die Weiterfahrt in der zu dieser Zeit überfüllten U-Bahn der Linie 6 in die Bronx dauerte fast eine Stunde, weil die Express Variante zu dieser Zeit nur in die andere Richtung betrieben wurde, hinunter nach Manhattan. Erst auf dem letzten Teilstück, zwischen der 138. Straße und der Parkchester Station, fand sie einen freien Sitzplatz. Sie stieg die steilen Stufen vom aufgeständerten Bahnhof hinab auf das Straßenniveau, stellte ihren Koffer auf die Rollen und legte die wenigen hundert Meter bis zur Leland Avenue zu Fuß zurück.
Es war eine ruhige Gegend, obwohl der Cross Bronx Expressway mit der Interstate 95 nur dreihundert Meter entfernt war. Die Leland Avenue war eine Einbahnstraße, in der die Autos auf beiden Straßenseiten parkten. In größeren und unregelmäßigen Abständen standen ein paar Bäume am Straßenrand. Die Bebauung war gemischt. Neben schmutzig-braunen Wohnblocks gab es mit der Schmalseite zur Straße stehende, zwei- und dreistöckige Einzelhäuser, etliche darunter aus Holz. Sehr oft führten Außentreppen zu den Räumen im ersten Stock. Und es gab viele betonierte Stellplätze vor den Häusern und Garagen in den Vorgärten.
Das Haus der NSA passte sich seiner tristen Umgebung perfekt an. Dem Steinhaus aus ehemals rotbraunem und inzwischen von Abgasen angegrautem Klinker, eingeklemmt mit nur zwei Meter Abstand zwischen den Nachbarhäusern, war ein hölzerner Vorbau bis zur Höhe der Traufe angefügt worden. Sein farblich schwer zu bestimmender Anstrich hatte stark unter der Stadtluft gelitten, war fleckig und blätterte. Die Fenster, auch die im Giebel im zweiten Stock oberhalb des Vorbaus, hatten keine Gardinen, aber man konnte nichts dahinter erkennen. Eine Treppe zum ersten Stock begann direkt hinter dem Metallzaun, der das Grundstück zum Gehweg hin abgrenzte. Über der Tür am oberen Ende der Treppe war eine Kamera montiert. Die Zufahrt zur Garage im Haus befand sich an der rechten Seite. Der Platz zwischen dem offenbar ferngesteuerten Garagenrolltor im Vorbau und dem Zaun war nicht groß genug, um dort ein Fahrzeug abzustellen. Auch die Torflügel im Zaun konnten per Funk- oder Infrarotsteuerung bedient werden. Neben der Tür im Zaun an der Treppe war ein Stahlpfahl mit einem Briefkasten aufgestellt, an dessen Vorderseite zwei unter fortgeschrittener Oxidation leidende Metallschilder befestigt waren. Das obere enthielt die Inschrift Holborn Trade, das untere den Namen Debra Ohanian.
Alice drückte den Klingelknopf am Zaun. Die Tür sprang auf. Am Eingang zum Vorbau im Obergeschoss empfing sie die Frau, die in der nächsten Zeit ihre Tante sein würde.
»Guten Morgen, Miss Norwood.« Debra Ohanian strahlte Alice aus dunklen Augen an und zeigte ein freundliches Lächeln. Sie war etwa fünfzig Jahre alt, trug ihr schwarzes Haar eng am Kopf anliegend und wirkte in ihrem eleganten, perfekt sitzenden Hosenanzug reichlich fremd vor dem heruntergekommenen Haus.
»Guten Morgen, Tante Debra.«
»Das ist nur für Außenstehende, Miss Norwood«, sagte Ohanian zur Überraschung von Alice und führte sie ins Haus.
»Es war auch nur im Scherz gesagt«, versicherte Alice schnell.
Der Vorbau war hier oben völlig leer. Sie gingen zur sehr stabil wirkenden Tür, die in den Steinbau führte, und Ohanian öffnete sie mit einem Nummerncode, den sie auf einem Tableau neben der Tür eintippte. Sie betraten ein großes, über die ganze Breite des Hauses reichendes Büro. Fahles Licht kam durch zwei Fenster an den Seiten, durch die man die Wände der nahen Nachbarhäuser sah, und ein Fenster vom Vorraum herein. Auf zwei der vier Schreibtische im Raum brannten Leuchten. Einer der Tische war offensichtlich Ohanians Arbeitsplatz, am anderen war ein etwa vierzig Jahre alter Mann mit einer Glatze aufgestanden. Sie stand in krassem Gegensatz zu seinen buschigen Augenbrauen.
»Richard Players«, begrüßte er Alice, »Ostasien Gewürze.«
»Mr. Players ist vorübergehend hier, genau wie Sie, Miss Norwood«, schaltete sich Ohanian ein. »Er nimmt keine Anrufe für Sie an, Sie nehmen keine Anrufe für ihn an. Kommen Sie! Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer.«
Während Richard Players und Alice sich mit Blicken zu verstehen gaben, dass sie Ohanians Vorsicht für übertrieben hielten, sagte Alice: »Ich telefoniere nur mit dem Smartphone.«
»Aber nicht hier, Miss Norwood! Sie finden unsere Hausregeln oben.«
Sie stiegen über eine Treppe im hinteren Teil des Hauses, die offensichtlich auch bis in die Garage hinab führte, in das darüber liegende Dachgeschoss. Das Zimmer lag vorne hinter dem Giebel. Es war wie ein Hotelzimmer mit einer Nasszelle, einem Klimagerät, einem Fernseher und einem Telefon ausgestattet. Sie schaute durch das Fenster, das sie bereits von der Straße aus gesehen hatte. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich eine nur leicht versetzte Baulücke. Sie diente als Parkplatz. Vorhänge würde sie also eigentlich nicht benötigen, aber es gab wenigstens ein Stoffrollo, das am Fenster befestigt war.
»Sie benötigen keinen Garagen-Beeper, oder?«, fragte Ohanian.
»Nein. Ich nehme die U-Bahn nach Manhattan.«
»Gut. In der Mappe finden Sie Wegbeschreibungen zu einigen Restaurants in der Nähe. Zwei sind rund um die Uhr geöffnet. Packen Sie Ihre Sachen aus, dann kommen Sie bitte herunter, und ich werde Ihnen Ihren Arbeitsplatz zeigen.«
»Ich werde gleich nach Manhattan fahren und heute noch dort anfangen.«
Damit hatte Ohanian wohl nicht gerechnet. »Okay.« Sie legte eine kleine Pause ein. »Ich gebe Ihnen dann im Büro die Schlüssel und Ihren Türcode. Bis gleich, also.«