„Also, um ehrlich zu sein“, fährt er nun fort, „ich war gestern auch schon hier, muss Sie jedoch verpasst haben. Heute bin ich seit halb neun Uhr auf Posten und warte. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie lange in diesem Fall eineinhalb Stunden dauern.“ Marianne nimmt an, er will ihr Mitleid erheischen, doch damit kann sie ihm nicht dienen. Schließlich hat niemand von ihm verlangt diese Plage auf sich zu nehmen. Deshalb beschließt Marianne überhaupt nicht zu antworten und hofft, er lässt sie bald in Ruhe. Jedoch, sie hat sich getäuscht, denn er weicht nicht von ihrer Seite und redet so, als hätte er von ihr gar keinen Kommentar erwartet, weiter.
„Na ja“, seufzt er, „ich hab’s ja gern getan. Schließlich wollte ich Sie unbedingt wiedersehen, und da ich inzwischen zu der Überzeugung gekommen bin, Sie rufen mich nicht an, habe ich beschlossen dem Schicksal etwas auf die Sprünge zu helfen. Ich habe mich auf die Lauer gelegt, wenn Sie mir diesen Vergleich erlauben.“
Marianne lässt auch dies durchgehen, wenn sie nur später ihre Ruhe hat. Sie verweigert weiterhin jede Bemerkung. Noch immer hat sie nichts zu sagen. Er hat auch keine Fragen gestellt, sondern nur seine Feststellungen mitgeteilt. Will er sie damit beeindrucken? Marianne jedenfalls lässt es kalt.
Trotzdem fährt er fort: „Hören Sie mal, da ich so lange auf Sie gewartet habe, könnten Sie wenigstens ein Gläschen mit mir trinken. Als Entschädigung. Meinen Sie nicht auch?“
Hier ist sie also die Frage. Nun muss Marianne wohl oder übel doch etwas sagen. Auf der einen Seite hat sie keine Lust mit ihm etwas zu trinken, auf der anderen Seite, was soll sie jetzt alleine zu Hause anstellen? Außerdem ist jedes Mittel gut, wenn sie ihn danach nur loswird. Vielleicht ergibt sich eine die Möglichkeit, ihn in der Kneipe so zu schockieren, dass er sich nicht weiter für sie interessiert. Zudem ruft Franzi erst morgen an, es fällt also nicht auf, wenn sie nicht gleich nach Hause zurückkehrt. Das Handy lässt sie während der Spaziergänge mit Mäxchen zu Hause.
Gerade als ihr dieser Gedanken durch den Kopf geht, fällt ihr auf wie sehr Franzi ihr Leben bestimmt. Eigentlich ist Marianne völlig von dieser Person abhängig. Ein Grund mehr heute nicht sofort nach Hause zu gehen. Und so sagt sie, um sich nicht sofort mit allem einverstanden zu erklären:
„Das wird schwierig sein. Jetzt kann ich den Hund nicht nach Hause bringen, sonst weckt er die Kinder.“ Wenn sie schon einmal die Tour mit den Kindern angefangen hat, kann Marianne die Geschichte weiterspinnen. Was macht das noch aus?
„Ist nicht schlimm“, lenkt er sofort ein, „er ist doch ein lieber Kerl. Wir nehmen ihn mit. Wenn er mich bis jetzt nicht gebissen hat, wird er auch niemand anderen zwicken. Außerdem haben Sie ihn doch bestens in Griff.“
„Na ja“, zögert Marianne, „ich weiß nicht so recht.“ Immer dieses Zögern!
„Nur ein Gläschen“, schlägt er nun vor, „danach bringe ich Sie sofort wieder nach Hause. Das verspreche ich Ihnen hoch und heilig. Kommen Sie, steigen Sie ein.“ Inzwischen sind sie, Marianne weiß nicht wie, in der Nähe seines Autos angelangt. Bevor Marianne es sich anders überlegen kann, ergreift er ihren Ellbogen, führt sie zum Auto, hält ihr die Beifahrertür auf und lässt sie und Mäxchen einsteigen. Es gibt kein Entrinnen, aber vielleicht will sie das auch nicht.
Gemeinsam fahren in Richtung Marienplatz. In der Jahnstraße findet Gerd einen Parkplatz. Diesmal ist Marianne beim Aussteigen schneller als er. So kommt er trotz eines Sprints zu spät, um ihr den Wagenschlag zu öffnen.
„Man sieht, dass Sie nicht oft verwöhnt werden“, stellt er lachend fest, „Ihnen hat schon lange niemand mehr den Wagenschlag aufgehalten.“
„Um ganz ehrlich zu sein“, grinst sie, „das ist mir noch nie passiert. Aber ich bin sehr selbständig erzogen worden. Von daher hat mir diese Dienstleistung auch noch nie gefehlt.“
Bezüglich der selbständigen Erziehung ist Gerd sich nicht ganz so sicher, doch er hütet jetzt etwas zu diesem Thema zu sagen.
Gemeinsam spazieren sie zum Bistro Relax. Sie ergattern einen Tisch, den sie sofort in Beschlag nehmen. Mäxchen kann sich in eine Ecke verkriechen. Es ist nett hier. Wann hat sie zuletzt solch einen Ort aufgesucht? Marianne erinnert sich nicht daran. Mit Franzi geht sie selten aus. Und alleine? Nun ja, da hat sie nicht wirklich Lust. Warum soll sie sich alleine an einen Tisch setzen und sich anstarren lassen?
Kaum sitzen sie, nähert sich die freundliche Bedienung. Zuerst drückt sie Marianne die Karte in die Hand und dann Gerd. Ratlos beginnt Marianne in der Karte zu blättern. Essen will sie nicht. Und trinken? Nun ja, vielleicht eine Apfelsaftschorle. Sie weiß es nicht. Soll sie Gerd fragen? Nein, die Blöße will sie sich nicht geben.
Wie kommt sie nur auf den Einfall mit dem Vornamen an ihn zu denken. Na ja, heute ist alles durcheinander und Marianne tut Dinge, die ihr sonst nicht einmal im Schlaf einfallen. Wo soll das nur enden?
In ihre Gedanken versunken hört, sie Gerd sagen:
„Nur eine Empfehlung! Die Cocktails hören sich gut an. Studieren Sie die Karte in Ruhe“, rät er ihr noch.
Er hat Zeit. Das mochte ja sein, aber was ist mit ihr? Weshalb geht er immer von sich aus? Vielleicht hat sie gar keine Zeit und muss noch einiges erledigen. Genügt es nicht, dass Franzi über sie bestimmt? Muss es jetzt auch noch dieser Mensch sein?
Trotzdem schlägt Marianne gehorsam die Karte erneut auf und entdeckt die Cocktails mit deren ausführlicher Beschreibung. Wie soll sie sich hier zurechtfinden? Marianne ist bislang nicht bewusst, dass man so viele Flüssigkeiten zu Cocktails mischt. Sie hat alle Mühe zu einer Entscheidung zu kommen.
„Sagen Sie mal“, wendet sie sich ihrem Tischkollegen zu, „das gibt es doch gar nicht. So viele Mischungen!“
„Was meinen Sie, was man alles mischt und trinkt“, sagt er nur.
„Na ja, Sie sitzen ja wohl an der Quelle“, entgegnet sie trocken.
Er lacht und meint: „Was mir zeigt, dass Sie meine Visitenkarte wenigstens gelesen und nicht vergessen haben.“
Mist, nun hat sie, unbedarft wie sie ist, sich schon wieder verraten. Immer tritt sie ins Fettnäpfchen. Kann sie sich denn nie zusammenreißen?
„Sicher“, gesteht Marianne, „schließlich sind alle weibliche Wesen von Natur aus neugierig. Oder nicht?“
„Vielleicht, vielleicht auch nicht“, überlegt er laut, „ich würde eher sagen, das bringt der Charakter mit sich. Ich bin auch von Haus aus neugierig. Das will ich ganz offen zugeben. Zum Beispiel bin ich sehr neugierig darauf, Sie näher kennenzulernen. Dafür würde ich einiges tun.“
Diese Neuigkeit ist nicht rosig für Marianne. Sie muss höllisch aufpassen. Der Mensch soll sich besser nicht in irgendetwas hineinsteigern. Aber wie soll ich ihn von seinem Vorhaben abbringen. Marianne fehlt es an Erfahrung in solchen Dingen.
Hoffentlich hat er jetzt nicht zu viel gesagt, denkt sich Gerd.
Noch immer ist Marianne mit dem Aussuchen eines geeigneten Getränks für sich beschäftigt. Die riesige Auswahl! Wie soll sie da zu einer Entscheidung kommen? Die alkoholisierten Getränke hat sie gleich abgehakt, da sich bei ihr, wie bei vielen Menschen alkoholisierte Mischungen ungünstig auswirken. Aber selbst bei nicht alkoholischen Getränken gibt es unzählig viele.
„Soll ich Sie beraten?“, bietet Gerd ihr an. Er hat ihr ratloses Gesicht bemerkt.
„Eigentlich möchte ich etwas ohne Alkohol“, erklärt sie ihm.
„Ich weiß ja nicht, ob Sie Kokos mögen und ein bisschen Alkohol ist drin“, sagt er und erwähnt den exotischen Namen des Getränks, Piña Colada.
Marianne liest nochmals die Beschreibung durch. Piña Colada! Hört sich gut