Etwa eine Viertelstunde später geht sie mit dem aufgeregten Hund an der Leine aus dem Haus. Gerd steht in seiner Radlerkluft da. Wirklich, er sieht sogar in Radlerkleidung flott aus. Das muss man ihm lassen. Aber, es ist sonnenklar, der Mann ist nichts für Marianne. Er ist ihr eine Kragenweite zu groß. Sie leben in zwei verschiedenen Welten.
„Na, Mäxchen“, sagt Gerd sofort, als der Hund an der langen Leine auf ihn zustürzt, „lange nicht gesehen. Anscheinend hast du mich auch nicht vergessen. Ist doch schön.“ Zu wem spricht er da oder von wem? Meint er sie, sich selbst oder tatsächlich den Hund? Das kann sie sich jetzt aussuchen. Fragen will Marianne lieber nicht.
„Am Marienplatz ist eine Eisdiele. Sollen wir dorthin gehen?“, schlägt Marianne vor.
Gerd schnappt sein Fahrrad und schiebt es neben Marianne und Mäxchen her.
„Gute Idee“, erklärt er sich sofort einverstanden und ist froh, dass der Vorschlag von ihr kommt.
„Wird es dir nicht zu kalt?“, fragt Marianne besorgt. Sie taxiert ihn von oben bis unten.
„Nein, es geht schon“, Gerd trottet weiter neben Marianne und dem Hund her. Er hat ihren fürsorglichen Blick bemerkt, übergeht ihn jedoch.
Sie kommen bei der Eisdiele an und entdecken einen Tisch, der gerade frei wird. Während Gerd sein Fahrrad abstellt und verschließt, belegt Marianne den Platz am Tisch. Gerd gesellt sich zu ihr und Mäxchen. Sie bestellen Eiskaffee. Als Gerd für den Hund etwas bestellen möchte, lehnt Marianne ab.
Entgegen aller Befürchtungen unterhalten sie sich rege. Nochmals kommen sie aufs Wandern, dann auf Skilaufen, Schnee und Schneekanonen und das Thema Umwelt zu sprechen.
„Wir machen viel an unserer Umwelt kaputt und müssen das irgendwann büßen“, behauptet Gerd, während er Mäxchen wieder ein Stückchen von seiner Waffel zuschiebt. „Es kann einem Angst werden“, fügt er hinzu.
„Ich glaube, wenn man solche Gedanken hegt“, gibt Marianne zu bedenken, „dann dürften wir alle keine Kinder mehr bekommen.“
„Sicher, du hast Recht“, bestätigt er.
Was ist das doch für ein schöner Sonntagnachmittag, denkt sich Marianne. Noch schöner ist es natürlich in solch angenehmer Begleitung zu sein. Schade, dass sie Gerd nicht gestehen kann wie wohl sie sich in seiner Gegenwart fühlt.
Sie will ihr Zusammensein nicht ewig hinauszögern und schlägt vor, sich gleich bei der Eisdiele zu trennen. Die Angelegenheit wird ihr zu gefährlich.
Gerd schaut auf die Uhr. Sofort vermutet sie, er hat noch ein anderes Rendez-Vous. Umso besser!
Aber anstelle Aufbruchsstimmung will Gerd wissen: „Wann musst du deine Kinder in Empfang nehmen?“
Oh, mein Gott, schon wieder! Ja, die Kinder! Die zwei Frauen am Nebentisch, lächeln Marianne neugierig und interessiert an. Wirklich, Marianne kommt aus dieser Schiene nicht mehr heraus. Wahrscheinlich darf sie von nun an gar nicht mehr aus dem Haus gehen, da sie immer Gefahr läuft, Gerd zu begegnen. Es ist schrecklich! Sie muss schnellstens einen Ausweg aus dieser verfahrenen Lage finden.
„Ja, ja“, gibt sie nur müde zur Antwort.
Plötzlich scheint ihm etwas einzufallen und so sagt er: „Apropos, wo sind deine Kinder jetzt?“
Oh je, hört das denn nie auf? Wo können die lieben Kinderlein jetzt, heute, am Sonntag sein? Ja, wo sind denn Kinder sonntags im Allgemeinen? Zu Hause bei Mama und Papa. „Ihre“ haben jedoch keinen Papa, der ist vor Jahren davongelaufen. Die Mama zieht Rad fahrend und Eis essend durch die Gegend. Also, wo können sie sein? Schrecklich!
Und so gibt Marianne die erste beste Lösung, die ihr einfällt, zur Antwort: „Sie sind heute zu einem Geburtstag eingeladen. Ich muss sie später abholen.“
„Na gut, dass du das sagst“, meint Gerd sofort, „es ist sechs. Du musst bestimmt gleich nach Hause. Schade!“
„Ja“, stöhnt sie, „aber so ist nun einmal das Leben.“
Er bezahlt. Immer lässt Marianne sich einladen. Irgendwann wird er ihr die Rechnung dafür präsentieren. Und wie soll sie die dann bezahlen?
Auf dem Nachhauseweg schlägt er ihr vor, sie zu begleiten. Sie können die Kinder gemeinsam abholen. Auch das noch!
„Nein, Gerd“, lehnt Marianne daher schnell ab. „Es ist gleich bei mir um die Ecke. Zuerst bringe ich Mäxchen nach Hause und dann hole ich meine Kinder ab. Sehr lieb von dir. Vielen Dank.“
Als sie fast bei Marianne zu Hause angekommen sind, erkundigt er sich: „Wann sehen wir uns wieder?“
„Gerd“, gibt Marianne sofort zurück, „gar nicht mehr. Ich hatte dir das doch schon erklärt. Es hat sich bis jetzt nichts daran geändert. Der Zufall wollte, dass wir uns heute begegnet sind. Sicherlich hatte ich Unrecht dich zu ermutigen. Dadurch hast du wieder ungerechtfertigte Hoffnungen gehegt. Es tut mir aufrichtig Leid, aber es geht nicht. Und bitte warte abends nicht, bis ich mit dem Hund Gassi gehe.“
„Schade“, meint er geknickt und fügt seufzend er hinzu, „weshalb bist du nur so stur. Im Laufe des Nachmittags bist du ein wenig aufgetaut und hattest dich entspannt. Aber du hast Recht, es ist deine Entscheidung. Du hast meine Telefonnummer. Wenn du mich treffen und sehen möchtest, ruf mich an. Meine Schulter steht dir nach wie vor zur Verfügung.“
„Wird gemacht. Ich melde mich mal“, verspricht Marianne tapfer und weiß doch, sie wird es nicht tun. „Und nochmals vielen Dank für alles.“ Damit geht sie mit Mäxchen ins Haus.
*
Gerd weiß von vornherein, dieser Vorschlag ist umsonst, doch er kann nicht umhin ihn zu machen. Weshalb nur weist sie ihn immer ab. Ihr Mann hat sie doch vor Jahren verlassen. Freilich, sie ist nicht geschieden. Noch nicht! Auch für dieses Problem sollte sich eine Lösung finden lassen. Darin ist er sich sicher.
Nur Marianne hat ihm nie eine Chance gelassen oder auch nur die kleinste Andeutung in dieser Angelegenheit gemacht.
Er fragt sich aber auch, weshalb er sich immer noch an sie klammert. Schließlich haben andere Mütter auch hübsche, liebe und nette Töchter. Nicht so kratzbürstig und abweisend wie diese Marianne. Oder ist es gerade das, was ihn anzieht? Die Herausforderung?
Wird er sich noch für sie interessieren, wenn er sie so weit gebracht hat, seinen Liebesbezeugungen nachzugeben und mit ihm ins Bett zu gehen. Er weiß es nicht.
Kennt er sich tatsächlich so wenig? Auf der anderen Seite hat er bislang immer noch keine stichhaltige Antwort darauf gefunden, weshalb er ihr so sehr nachstellt und um jeden Preis versuchen will, sie von seiner Ehrlichkeit und Redlichkeit zu überzeugen. Ist er wirklich ehrlich? Hat sie vielleicht einen siebten Sinn für das was kommen könnte, nämlich eine weitere Enttäuschung? Sie will sich davor schützen. Nur verständlich, findet er.
Es soll ja so sein, dass Menschen, die besonders schwierigen Situationen ausgesetzt sind, einen siebten Sinn für Unheil bekommen. Ist sie eine von diesen Personen?
Egal wie die Antwort ausfällt, er wird sie nicht erfahren, da sie ihn erneut von sich weist. Und dies mit einer Bestimmtheit, die keine Widerrede zulässt. Im Augenblick muss er weichen und hoffen, ihr fällt irgendwann seine Visitenkarte in die Hände und sie sagt sich, ach ja, da war doch jemand, weshalb rufe ich ihn nicht einmal an und frage wie es ihm geht.
Diese Möglichkeit ist seine einzige Hoffnung, obwohl unwahrscheinlich. Er kann nur Abwarten und Tee trinken.
*
Zu wem kann sie in der Nachbarschaft gehen, die „Kinder“ abzuholen? Schließlich ist es besser, wenn sie nochmals aus dem Haus geht. Vielleicht steht Gerd um die Ecke und will sehen, wo sie die Kinder abholt.