Hilfesuchend blickte sie zur Rezeption und entdeckte Flynn, der sie mit vor der Brust verschränkten Armen durch die Glasscheibe der Eingangstür zu beobachten schien. Sah sie Belustigung in seinem Gesicht? Nein, das bildete sie sich sicher nur ein.
„Hier, bringe den Gaul zum Stall. Ich komme gleich nach“, sagte Jack und drückte ihr die Leine in die Hand. Ein riesiger Schrecken durchfuhr Lia. Sie liebte Tiere und besonders Pferde, hatte von ihnen aber nicht die leiseste Ahnung.
„Du solltest dich für die Arbeit nicht so sauber anziehen“, sagte Jack und musterte sie, „wo kommst du nur her? Arbeitet man in Le Pradet in dieser Aufmachung im Stall?“
„Im Stall?“, fragte Lia verdutzt. Genau hatte man ihr die Tätigkeit, die ihr zufallen sollte, noch nicht erklärt, aber sie war Meilen davon entfernt gewesen zu ahnen, dass sie im Stall arbeiten sollte. Wieder blickte sie hilfesuchend zu Flynn, der sie weiterhin, scheinbar ohne eine Miene zu verziehen, beobachtete. Sie hatte das Gefühl, seit ihrer Ankunft sowieso schon auf der Abschussliste zu stehen.
Lia holte tief Luft. So viel war heute schon schiefgelaufen, dass sie Flynn nicht wieder enttäuschen wollte.
„Also gut, wo ist der Stall und was soll ich tun?“
„Ach so, du weißt nicht mal, wo der Stall ist? Hat Tess dir keinen Plan gegeben?“
„Sicher, aber -“
Genervt schlug er sich auf die Schenkel. „Mein Gott, hat man mir dieses Jahr wieder eine Perle untergejubelt. Na toll, kommst zu spät und hast dir den Plan nicht mal angeschaut. Dort -“, sagte Jack und schien sich sichtlich zu beherrschen, als er in die Richtung eines flachen Gebäudes zeigte, „liegt der Stall. Striegel die Pferde und miste den Stall aus, falls du das wenigstens kannst. Ich komme gleich nach.“
Lia nickte. Ihre Beine waren zittrig. Noch nie hatte sie sich um Pferde gekümmert oder einen Stall ausgemistet. Das Entsetzen wich und langsam stieg Wut in ihr auf. Wut auf sich selbst. Wie konnte man eine so wichtige Entscheidung treffen, in seiner Heimat alles stehen und liegen zu lassen, sich völlig in die Abhängigkeit Unbekannter zu begeben, ohne sich vorher genau zu erkundigen? In ihrem Drang nach Änderung hatte sie sich blindlings ins Abenteuer gestürzt. Jetzt würde sie es eben ausbaden müssen. Sie straffte die Schultern. Es stand außer Frage, dass sie klein beigab.
„In Ordnung“, sagte sie schließlich und zog mit dem Tier, das sich erstaunlich leicht führen ließ, in Richtung Stall davon. Jack schüttelte den Kopf und machte kehrt. Lia würdigte Flynn keines Blickes mehr, es sollte ja nicht so aussehen, als ob sie ihm gefallen wolle oder als ob sie Hilfe bräuchte.
Am Stall angelangt, ein rechteckiges Gebäude mit einem einfachen Wellblechdach, führte sie das Pferd in die freie Box, in der Hoffnung, dass sie das Richtige tat. Sie zählte. Es gab fünfzehn Boxen, wovon vierzehn belegt waren. Es roch nach Pferdedung und Leder, und die Insassen schabten, schnaubten und wieherten um die Wette. Krampfhaft versuchte Lia sich an Filme zu erinnern, in denen Pferde vorgekommen waren. Wie striegelte man ein Pferd? Wie mistete man einen Stall aus? Sie versuchte, die Situation mit Logik zu bewältigen. Wie zur Bestätigung wieherte ein schwarzer Hengst und schüttelte den Kopf. Der beißende Geruch von Pferdeurin stach ihr in die Nase und Lia schaute sich nach einer Mistgabel um, fand sie prompt am Eingang und begann mit dem Ausmisten.
„Ja, ja, hast ja Recht“, sagte sie zu dem Tier, „es stinkt, und wenn schon eingesperrt, dann doch wenigstens in annehmbaren Verhältnissen, nicht wahr?“
Jetzt verstand sie Jacks Bemerkung über ihre Aufmachung, denn schon bald hingen Staub und Strohhalme an ihrer Kleidung und ihr Körper war schweißgebadet. Eigentlich war es keine schlechte Arbeit, versuchte sie sich einzureden. Man konnte dabei nachdenken, und Tiere schienen derzeit angenehmere Begleiter als manche Menschen. Sie dachte daran, dass man ihr nach ihrer Anreise nicht mal einen Tag Verschnaufpause gegönnt hatte. Nach dieser furchtbaren Nacht im Zug, hätte sie sich gerne mal kurz hingelegt. Aber egal. Umso besser würde sie in der folgenden Nacht schlafen. Sie dachte an Tess und Joe, an den eiskalten Empfang. Was hatte sie eigentlich erwartet? Dass man ihr um den Hals fiel oder sie mit einem Orchester empfing? Sie schnaubte und der Hengst wandte ihr jäh den Kopf zu, als wolle er fragen: wie bitte?
Sie grinste und tätschelte seinen Hals. Sie dachte an Flynn und an Jack, die zwei bestaussehenden Männer, die sie jemals in Fleisch und Blut gesehen hatte. Und doch ... Sie waren so unterschiedlich und beide nicht wirklich ihr Typ. Oder?
Nachdenklich hielt sie inne und stützte sich auf den Stiel der Mistgabel. Was hieß hier Typ? Seit ihrer Jugend hatte sie sich mit Ihresgleichen angefreundet. In der Schule waren es Streber gewesen, später fleißige Studenten, Karrieremänner. Aber war es nicht genau dieses Schema, dem sie entkommen wollte? Den immer wiederkehrenden Gesprächen, Handlungen, Tagesabläufen? War es nicht genau diese Eintönigkeit, der sie hatte entfliehen wollen? Waren es nicht gerade die gewünschten Veränderungen, die sie ins Abenteuer stürzen ließ? Wie lautete noch das angeblich von Einstein stammende Zitat? Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten, zitierte sie in Gedanken. Traf das nicht auf alles zu, also auch auf Männer?
Bislang jedenfalls hatte sie sich eher für den intellektuellen Bürotypen erwärmen können, wobei körperliche Kriterien nicht so sehr ins Gewicht gefallen waren. Sie brauchte einen Mann mit Hirn, keinen Prahler, wie Flynn einer war, und keinen düsteren Bad Boy wie Jack. Gewisse Reize hatten die körperliche Schönheit schon, dachte Lia, aber nicht genug, um etwas Ernsthaftes in Betracht zu ziehen, und erst recht nicht mit einem Kollegen oder Vorgesetzten.
Plötzlich ertappte sie sich dabei, sich vorzustellen wie es wäre, von Flynn geküsst zu werden, und ihr stockte der Atem bei dem Gedanken. Und Jack? Mal von seiner mürrischen Art abgesehen, würde es wohl kaum eine Frau geben, die nicht auf ihn flog. Aber genau das störte Lia. Er war verrucht und gleichzeitig furchtbar sexy. Unanständig, aber unwiderstehlich. Und er schien es zu wissen. Wie würde es sein, in den Armen eines solchen Mannes zu liegen? Ein Ziehen durchfuhr ihre Brust und sie schnappte nach Luft. Aber Lia, was ist los mit dir? Sie schüttelte energisch den Kopf. Dummes Ding. Du wirst vielleicht nicht lange hierbleiben, solltest dich lieber ranhalten, anstatt an Unerreichbares zu denken. Männer wie Flynn und Jack warteten sicher nicht auf eine ungeschickte Bürokratin wie sie. Es gab so viele schöne Frauen - was sollten sie mit einer grauen, unscheinbaren und noch dazu unbeholfenen Gans anfangen? Wieder dachte sie an die schöne Tess und die reizvolle Joe und wunderte sich, wie sie so naiv hatte sein können, auch nur eine Sekunde zu glauben, dass etwas mit Flynn hätte sein können.
Sie seufzte.
Kaum bemerkte sie, wie die Zeit verstrich. Sie redete auf die Pferde ein, als wären es ihre Freunde und fand sich mit der zugeteilten Aufgabe ab. Man konnte dabei nicht viel falsch machen. Wenn da nicht ihr Magen wäre, der furchtbar rumorte. Es musste jetzt um die Mittagszeit sein, die Sonne stand hoch am Zenit, aber Lia wagte es nicht, den Stall zu verlassen, bevor sie nicht alle Aufgaben, die ihr von Jack auferlegt worden waren, bewerkstelligt hatte. Nein, nein, nein, sie würde ihre Entscheidung nicht bereuen, schoss es ihr durch den Kopf.
Sie mistete die Ställe aus - was ihr nach der zweiten Box schon wesentlich besser von der Hand ging -, legte frisches Stroh aus, striegelte die Pferde, fütterte sie mit frischem Heu, füllte mithilfe des Wasserschlauchs die Trinkbehälter.
„Hier, meine Liebe, trink. Es ist heiß bei euch im Stall. Das wird dir guttun. Gutes Mädchen.“ Sie tätschelte die Flanken der Stute.
Jäh zuckte Lia zusammen, als sie Jack bemerkte, der an der Stalltür lehnte und sie beobachtete. Wie lange hatte er schon so dagestanden?
„Hat alles geklappt?“ Er schien ruhiger.
„Ja, keine Sorge“, antwortete Lia, ließ sich nicht aus der Fassung bringen, gab dem nächsten Pferd zu trinken. Sie spürte die Hitze, die ihr in die Wangen schoss. Wie albern, dachte sie.
„Es tut mir leid, dass ich vorhin so schroff zu dir war“, sagte Jack und kam näher. Jetzt, da er sich angenehmer gab und sogar