„Ja, sorry“, sagte Lia, „ich hatte so viel zu tun, dass ich keine Zeit hatte, vor dem Essen noch zu duschen. Außerdem, wozu auch? Ich muss ja am Nachmittag wieder zurück.“ Mit der Gabel schob sie sich ein wenig von dem Brei in den Mund. Erstaunlicherweise schmeckte es ausgezeichnet. Oder war sie nur so ausgehungert, dass alles passte? „Allerdings würde ich gerne früher Schluss machen, um mir passendere Kleidung zum Arbeiten zuzulegen. Außer du hättest Schutzkleidung für mich?“ Sie schaute Jack fragend an, der mit den Zähnen gerade ein Stück vom Brot abriss. Durch den Ruck fielen ihm wieder Haarsträhnen ins Gesicht. Mit gefüllter Wange kaute er und schaute sie von der Seite an.
„Nee, leider nicht, sonst hätte ich sie dir ja schon verpasst, oder? Außerdem würdest du im Stall vor Hitze eingehen, besonders im Hochsommer“, sagte er mit vollem Mund.
„Arbeitskleidung? Stall?“, fragte Tess ungläubig, setzte ihr Glas ab und schaute fragend von Flynn zu Jack, dann zu Lia und wieder zurück zu Flynn, der sich abgewandt hatte. Seine Schultern zuckten verdächtig.
„Was geht hier vor sich?“, fragte Tess.
Plötzlich drehte Flynn sich um. Seine Augen bildeten Schlitze, tränten vor Lachen und er hielt sich die Hand vor den Mund, verschluckte sich und hustete. Er wollte sprechen, doch ein erneuter Lachkrampf packte ihn. Auch Joe kicherte schadenfroh. Jetzt war es Jack, der in der Kaubewegung innehielt und stirnrunzelnd von Joe zu Flynn schaute. Eine tiefe Furche hatte sich zwischen seinen Augenbrauen gebildet. Der Chef versuchte, sich zu beruhigen, doch sobald er zum Sprechen ansetzte, packte ihn ein neuer Anfall, noch heftiger als der vorherige. Er wischte sich die Augen ab, aber seine Schultern hüpften weiter auf und ab. Eine vage Ahnung schlich in Lia empor. Konnte es wirklich sein?
„Nein!“, sagte Tess und schüttelte mit dem Kopf, „das ist nicht dein Ernst, Jack? Du hast Lia nicht in den Ställen arbeiten lassen?“
Jack ließ die Gabel fallen. Jetzt fiel auch Joe in den Lachkrampf mit ein, hielt sich den Handrücken vor den Mund. Auch ihre Schultern zuckten und sie schien sich nicht mehr einkriegen zu wollen.
„Ho, was soll das, Mann?“, rief Jack und lief rot an. Flynn sammelte sich.
„Ich ... ich ... du hast ihr einfach die Zügel in die Hand gedrückt ...“, wieder kicherte er los, kringelte sich vor Lachen. Tess schien zu begreifen und hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht auch noch laut loszuprusten.
Jack grinste geniert. „Du hast es gewusst und nicht reagiert?“
„Es war so heftig ... ich konnte nicht -“, japste Flynn und lachte weiter. Es war ansteckend. Auch Lia musste plötzlich grinsen. Erleichtert fielen Jack und Tess ins Gelächter mit ein.
„Hey, Mann, sie hat den ganzen Stall ausgemistet und die Pferde gestriegelt und keinen Pieps von sich gegeben“, rief Jack und das Gelächter brach aufs Neue los, „sie hat geschuftet wie ein Holzfäller, im Ernst.“
Kein Auge blieb mehr trocken, so sehr lachten sie. Es wirkte befreiend. Flynn und Lia lachten sich an. Er schien etwas sagen zu wollen, doch als er ernst werden wollte, lachte Lia wieder los.
Als sich alle nach ein paar Minuten wieder einigermaßen beruhigt hatten, legte Flynn seine Hand auf Lias Arm. Noch immer glitzerten seine Augen feucht.
„Verzeihst du mir? Es war einfach zu verlockend, nichts zu sagen.“ In seinen Augen flackerte der Schalk.
„Für dieses Mal ja, aber Rache ist ein Gericht, das bekanntlich kalt noch besser schmeckt“, konterte sie frech.
„Oho“, rief Jack und grinste, „fein gesprochen. Mal sehen, ob ich dir dabei nicht sogar helfen werde, Lia.“ Er zwinkerte ihr zu.
Flynn lachte die beiden an.
„Du bist echt fantastisch, Lia. Sag ehrlich, unter uns: Hast du tatsächlich den ganzen Stall ausgemistet?“, neckte er sie und kicherte erneut.
Lia knurrte gespielt böse. Eigentlich hätte sie beleidigt sein sollen. Aber war sie nicht selbst ein wenig schuld an der Situation? Dumm und naiv hatte sie Jacks Anweisungen befolgt. Wäre sie selbstbewusster gewesen, hätte ihr das nicht passieren können.
„Ja, das habe ich. Aber ich habe natürlich gewusst, dass es sich um einen Scherz handelt und wollte nur mal sehen, wie weit du bereit bist zu gehen“, log sie so offensichtlich, dass das Gelächter wieder losbrach. „Gehe ich richtig in der Annahme, dass ich somit meinen Initiationstest bestanden habe?“ Sie zwinkerte.
„Ja, das kann man wohl sagen“, sagte Jack und alle grinsten sie anerkennend an. Alle, außer Joe! Die schaute pikiert zur Seite, verzog abfällig den Mund. Sich über Lia lustig zu machen, schien ihr keine Schwierigkeiten zu bereiten, doch Frieden sollte es wohl nicht bedeuten.
„Aber wo ist denn dann die Neue geblieben, ich meine, die Pferdepflegerin, die heute ihren Dienst hätte antreten sollen?“, rief Jack aufgebracht, breitete sie Hände auf dem Tisch aus und hob die Achseln.
Jäh riss Tess die Augen auf und ihre Hand schnellte zu ihrem Mund, was ihre vielen Goldarmbänder klappern ließ. „Oh je, das habe ich ganz vergessen dir auszurichten. Sie hat heute früh angerufen und sich entschuldigt. Sie wird erst morgen den Dienst antreten.“
Mit der Hand klatschte Jack sich an die Stirn, schloss die Augen und schüttelte den Kopf. „Oh my goodness!“, sagte er und alle lachten erneut.
„Mann, das tat echt gut. Danke Lia, ich habe schon lange nicht mehr so sorglos gelacht“, sagte Flynn.
„Wer den Schaden hat“, sagte Tess, „braucht für den Spott nicht zu sorgen, nicht wahr, Lia?“
Lia zwinkerte Tess zu, freute sich über die Vertrautheit, die plötzlich entstanden war. Flynn erhob sich, nahm sein Tablett auf und wandte sich zum Gehen. Nach einigen Schritten drehte er sich noch einmal zu ihr um. „Und Lia?“
„Ja?“
„Du hast für den Rest des Tages frei und kommst morgen früh um acht an die Rezeption, okay? Und lass dir von niemanden mehr neue Arbeit aufhalsen, ja?“ Erneut erntete er Lacher.
Lia grinste und nickte.
„Nein, ein zweites Mal lasse ich mich sicher nicht ins Bockshorn jagen.“
*
Kapitel 6 – Flynn – Sorgen
Die Rechnungen stapelten sich auf seinem Bürotisch, der in einer kleinen Kammer hinter der Rezeption stand. Seinen Kopf in die Hände gestützt, die Ellbogen auf dem Tisch, saß Flynn regungslos da und starrte vor sich hin. Er konnte die eingehende Post ignorieren, sie horten, in eine Ecke schieben oder sie gar zerknüllen und in den Papierkorb werfen: Es änderte nichts an seiner Situation!
Sie hatten heute gelacht und es hat ihm wirklich gut getan. Für einen kurzen Augenblick hatte er die Sorgen, die auf seinen Schultern und seinem Gemüt lasteten, vergessen können. Doch die Realität kam immer zurück, wie ein Bumerang. Je heftiger man versuchte, sie zu ignorieren, oder sie weit von sich zu werfen, umso härter traf sie einen beim Erwachen.
Unwillkürlich dachte er an die Worte der Zigeunerin: Du in Gefahr! Ha! Als ob er das nicht wüsste. Er lachte lustlos in sich hinein. Irgendetwas musste geschehen, wenn er nicht alles, wofür er jahrelang gekämpft hatte, verlieren wollte. Er dachte dabei allerdings weniger an sich, sondern an all die Menschen, die mehr oder weniger von ihm abhängig waren und auf ihn zählten. Im Süden gab es kaum Arbeit, und wenn überhaupt, dann im Tourismus. Wie hatte es nur soweit kommen können, fragte er sich, auch wenn er die Antwort genau kannte. Es war nicht seine Schuld gewesen. Es war niemandes Schuld gewesen ... wer hätte auch ahnen können, dass der Sturm