In Gedanken wiederhole ich immer wieder Fox’ Worte: `Diese Schlacht werden sie nicht gewinnen!`.
Wir kämpfen den ganzen Tag und noch bis spät in die Nacht um das Leben von Pans Freundin. Beziehungsweise Aurélie kämpft und Günter und ich unterstützen sie so gut wir können:
Wir halten die Patientin fest während Aurélie die ausgerenkten Finger mit einem schnappenden Geräusch wieder in ihre natürliche Position bringt. Wir holen Verbandszeug, Salben, warmes Wasser und diverse Geräte, deren Funktion ich nur teilweise verstehe. Wir helfen dabei, das gebrochene Bein mit einer Gipsschiene zu stabilisieren. Gegen 8 Uhr abends setzt der Herzschlag der jungen Frau kurzzeitig aus, doch Aurélie schafft es, sie wieder zurückholen.
Innere Verletzungen können wir Gott sei Dank keine feststellen, aber der Schock und der gefährliche Cocktail aus Schmerzmitteln und Drogen, den Aurelie durch den Bluttest feststellen konnte, fordern dem zierlichen Körper alles ab.
Wann immer ich die Chance habe, verlasse ich das Krankenzimmer kurz, um nach der kleinen Maddie zu sehen. Sie scheint mit der Situation besser klar zu kommen als wir Erwachsenen, trotzdem will ich nicht, dass sie an so einem Tag die ganze Zeit alleine ist.
Also koche ich ihr Milchreis, schmiere Brote, erzähle ihr Geschichten und sorge dafür, dass sie sich die Zähne putzt und ihren Schlafanzug anzieht. Bei der Geschichte von dem Tag, an dem Audrey und ich uns endlich kennenlernen durften schläft sie schließlich mit dem Kopf auf meinem Schoß ein.
Als ich sicher bin, dass sie tief und fest schläft, schlüpfe ich vorsichtig von der Couch in der hinteren Ecke des Speisesaals und decke den kleinen Körper mit einer kuscheligen, weißen Wolldecke zu, die ich in einem der Schränke finde. Audrey Hepburn versteht das natürlich als Einladung und rollt sich mit einem zufriedenen Schnurren am Fußende des Mädchens zusammen.
Gegen drei Uhr morgens lässt sich Aurélie schließlich erschöpft auf einen Stuhl sinken und verkündet: „Diese Kampf `aben wir gewonnen! Eins ssu null für uns!“
Ich bin unendlich erleichtert, dass die junge Frau nun stabil und außer Lebensgefahr ist. Dennoch bringe ich nur ein müdes Lächeln zustande. Ich fühle mich völlig ausgelaugt und überfordert.
Von dem Rest der Gruppe gab es, seit sie am Vormittag das Haus verlassen haben, kein Lebenszeichen mehr und die Euphorie über unseren kleinen Sieg wird durch die Ungewissheit über ihr Schicksal gedämpft. Aurélie ist unheimlich blass, was durch ihre glänzend roten Haare nur noch stärker unterstrichen wird. Mit zwei Fingern massiert sie ihre Nasenwurzel und schließt kurz die Augen, die sie ohnehin nur noch mit Mühe aufzuhalten scheint.
Dann steht sie energisch auf: „Isch muss nach Maddie sehen. Ihr könnt ins Bett gehen, wenn ihr wollt. Isch überwache die Passientin.“
Sie nimmt sich eine Art kleinen Computer von einem der Tische, schaltet diesen ein und hängt ihn sich an den Gürtel. Auf dem Display erkenne ich die gleichen Linien und Werte wie auf einem größeren Pendant neben dem belegten Krankenbett, an das die junge Frau mit diversen Kabeln angeschlossen ist. So hat Aurélie ihre Vitalwerte wohl auch außerhalb des Zimmers immer im Blick.
Sie macht sich auf den Weg in die Eingangshalle. Günter und ich schlurfen geschafft hinterher. Als sich Aurélie gerade zur Treppe wendet, um mach oben zu gehen, hole ich sie ein: „ Sie liegt auf dem Sofa im Esszimmer.“, halte ich sie auf.
Sie sieht mich kurz fragend an, geht dann aber wortlos weiter in Richtung Speisesaal. Ich folge ihr und auch Günter kommt nach einem kurzen, sehnsüchtigen Blick zur Treppe hinterher. Leise schlüpfen wir in das inzwischen stockdunkle Zimmer, in dem nur noch die kleine Leselampe brennt, die ich für Maddie angelassen habe.
Aurélie geht zu ihrer Tochter und streicht dem schlafenden Mädchen zärtlich ein paar Strähnen aus der Stirn. Dann drapiert sie die inzwischen heruntergerutschte Decke vorsichtig wieder um ihre schmalen Schultern und kassiert dafür einen kurzen, strafenden Blick von Audrey Hepburn, die der Kleinen immer noch zu Füßen liegt.
Schließlich dreht sie sich zu mir um und sieht mich an als würde sie mich zum ersten Mal sehen:
„ Du ´ast sogar dafür gesorgt, dass sie ihre Schlafanssug anssieht! Merci, das war wirklisch lieb von dir!“
Ihr Blick ist nun gar nicht mehr kalt und streng, sondern absolut offen und ich sehe darin so viel echte Mutterliebe, dass ich mich schnell wieder abwenden muss, um nicht von meinen eigenen Gefühlen übermannt zu werden.
Aurélie deutet meine Reaktion offenbar falsch und beeilt sich zu sagen: „´ör mal, es tut mir leid, dass isch so un’öflisch war. Isch vertraue die Menschen einfach nischt mehr so schnell wie früher einmal. Aber du scheinst wirklisch nett zu sein. Entschuldige bitte.“
„Nein, nein, das ist es nicht. Alles gut. Das hab ich wirklich gern gemacht.“, antworte ich. Nach den letzten beiden Tagen liegen meine Nerven so blank, dass ich etwas länger brauche, um mich wieder zu fangen. Meine Stimme zittert und die Tränen, die ich sonst immer so gut zurückhalten kann, schießen mir wie kleine Sturzbäche in die Augen.
„Wenn ich euch zwei zusammen sehe, muss ich nur immer an meine eigene Mutter denken. Leider war unser Verhältnis nicht so gut wie eures. Ich habe zu spät erkannt, was für ein toller Mensch sie war und ich schätze, ich habe sie nicht besonders fair behandelt. Ich wünschte, ich hätte ihr deutlicher gezeigt, wie wichtig sie für mich ist.“, erkläre ich meinen unpassenden Gefühlsausbruch.
Ich setze mich auf einen der Stühle am Esstisch und versuche, mich zu beruhigen. Aurélie zieht sich einen Stuhl zu mir heran und nimmt ebenfalls Platz. „Du musst dir keine Vorwürfe machen. Glaub mir, sie ´at es gewusst. Du warst die Liebe ihres Lebens und sie ´ätte dir ohne´in alles verziehen.“
Sie legt mir tröstend die Hand aufs Knie und schmunzelt ein wenig:
„Das ist die Kreuss, die alle Eltern tragen müssen, weißt du. Isch bin sischer, eines Tages wirst du das verstehen.“
Dann steht sie plötzlich wieder auf und sieht sich voller Tatendrang im dunklen Zimmer um: „So, isch weiß nischt, wie es eusch geht, aber isch muss jetzt erstmal was essen!“
„In der Küche steht noch Milchreis auf dem Herd.“, lasse ich sie wissen.
„Oh, mon dieu! Du, chérie, bist eine Engel!“
Mit diesen Worten läuft sie durch die kleine Seitentür in Richtung Küche und kurz darauf hören wir das eifrige Klappern von Geschirr. Ich sehe zu Günter herüber, der sich an die andere Seite des Tisches gesetzt hat. Jetzt erst fällt mir auf, wie blass und übermüdet er aussieht. Seine Hände zittern und auf seiner Stirn glitzern ein paar kleine Schweißperlen, obwohl es im Haus nun wirklich nicht besonders warm ist.
„Ist soweit alles in Ordnung?“, frage ich besorgt.
Ich kann in seinem Gesicht ablesen, wieviel Kraft es ihn kostet, sich zusammenzunehmen und mir in die Augen zu sehen: „Ja, es geht schon. Ich habe in meinem Leben schon wirklich viel gesehen, aber mit einigen Dingen werde ich wohl nie klar kommen.“
„Ich finde, mit einigen Dingen sollte man auch nicht klarkommen müssen.“, erwidere ich verständnisvoll. Aurélie, die mit einem Tablett mit drei dampfenden Tellern in der Tür steht, eilt zu uns herüber und stellt einen Teller vor Günter auf den Tisch. Dann drückt sie ihm einen Löffel in die Hand und ordnet liebevoll an: „Jetzt isst du erst einmal etwas und dann geht es `usch `usch in die Bett, non?“
„Ja, Madame.“, antwortet Günter und löffelt brav seinen Milchreis.
Ich war der festen Überzeugung, nicht einen Bissen herunterzubekommen, aber sobald der Teller vor mir steht, meldet sich mein vernachlässigter Magen und ich stürze mich auf die wärmende Süßspeise.
Obwohl ich wirklich ordentlich zulange, ist Günter als erster fertig. Er steht auf und will nach seinem Teller greifen, wird aber mitten