Rasante Zeiten - 1985 etc.. Stefan Koenig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Koenig
Издательство: Bookwire
Серия: Zeitreise-Roman
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750237100
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all den Privilegien, die man als staatstragende Person genießt?“ Ich war gespannt, wie sie auf meine provokante Frage antworten würde.

      „Staatstragend sind alle Bürger in der DDR“, entgegnete sie, „aber leider dürfen nicht alle reisen wie ich. Das ist schon ein großer Mist!“

      „Ich bin froh, dass wir offen reden können, und so kenne ich dich ja auch – dass du offen deine Meinung sagst. Glaubst du also, dass es besser wäre, die Grenze wäre durchlässiger? Wären dann die DDR-Bürger zufriedener?“

      Über sieben Brücken …

      Emma hatte eine Platte aufgelegt. Wir tranken einen Weißwein zum Abendbrot und im Hintergrund sang Peter Maffay »Über sieben Brücken musst du gehn«.

       Manchmal geh ich meine Straße ohne Blick,manchmal wünsch ich mir mein Schaukelpferd zurück.Manchmal bin ich ohne Rast und Ruh,manchmal schließ ich alle Türen nach mir zu.

      „Das ist doch der Maffay, nicht unsere Karat-Band!“, rief Tamara mit unterschwelliger Empörung.

      Emma lächelte und sagte: „Der Maffay kupfert gerne ab. Immerhin aber nur die besten Songs.“

      „Reg‘ dich nicht auf“, wendete ich mich schmunzelnd an Tammi. „Wir wissen ja, dass der Superhit in der DDR und nicht im Westen das Licht der Welt erblickte. Aber er hat halt alle Grenzen überwunden. Zeugt doch vom Weltniveau sozialistischer Musikproduktion!“

      „Mach‘ dich nur lustig!“ Tamara nahm es heiter, stupste mich an und grinste. Dann erzählte sie uns, wie der Song von Herbert Dreilich, dem Sänger der DDR-Rockgruppe Karat, innerhalb von nur zwei Stunden in einem mickrigen Übertragungswagen aufgenommen worden war. Vorher hatte er zwei Wochen lang über dem Text gebrütet, aber keine Melodie wollte ihm einfallen. Und dann, am Morgen im Übertragungswagen, ging es wie durch eine höhere Eingebung ruckzuck. Dass der Song später zu einem Welthit werden sollte, hatte 1978 noch keiner geahnt.

      „Als der Song ein Jahr später im Abspann des gleichnamigen Films verklang, klingelten im Fernsehstudio der DDR schon die Telefone Sturm“, sagte Tamara.

      „Arbeitet dein Vater immer noch bei der DEFA in Babelsberg?“

      „Ich glaube, da bleibt er noch bis zum Umfallen. Filmen, Kameraführung, das ist sein Ein und Alles. Jedenfalls hat er erzählt, dass nach der Erstaufführung des Films eine Anfragewelle über sie hereinbrach. Ob Ost- oder Westbürger, jeder wollte wissen, wo man den Titel kaufen könne.“

      Wir prosteten uns zu und hörten die musikalische Interpretation von Maffay.

       Manchmal ist mir kalt und manchmal heiß,manchmal weiß ich nicht mehr, was ich weiß.Manchmal bin ich schon am Morgen müd,und dann such ich Trost in einem Lied.

       Über sieben Brücken musst du gehn,sieben dunkle Jahre überstehn,siebenmal wirst du die Asche sein,aber einmal auch der helle Schein.

       Manchmal scheint die Uhr des Lebens still zu stehn,manchmal scheint man immer nur im Kreis zu gehn.Manchmal ist man wie von Fernweh krank,manchmal sitzt man still auf einer Bank.

       Manchmal greift man nach der ganzen Welt,manchmal meint man, dass der Glücksstern fällt.Manchmal nimmt man, wo man lieber gibt,manchmal hasst man das, was man doch liebt.

      Während wir zuhörten und aßen, ging mir allerlei durch den Kopf. War der Song ein Abgesang auf die DDR, aus der man über sieben Brücken flüchten konnte? Ging es also um die Überwindung der Mauer? Oder war es nur eine Reflexion über unsere allgemeinen menschlichen Hoch-und-Tief-Gefühle, die uns manchmal überkamen?

      Meiner jungen Familie und mir ging es im Moment gut, sehr gut sogar. Aber wie würde es uns in Zukunft gehen? Musste ich nicht auch schon bald nach neuen Wegen, nach Brücken suchen, um berufliches Neuland zu betreten, damit ich meine vierköpfige Familie mit einem sicheren Beruf ernähren konnte?

      In den vergangenen Wochen hatte ich immer wieder daran denken müssen, dass mein Zeitvertrag an der Uni schon in sechzehn Monaten, im Mai 1986, auslaufen würde. Was dann? Ein gewisses, sogar ein sehr gewisses Krisengefühl konnte ich vor mir selbst nicht mehr länger verleugnen. Vor Emma schon.

      „Glaubst du, dass der Karat-Song mit der Reisebeschränkung zu tun hat? Und zurück zu meinen Fragen: Wäre es vernünftiger, die Grenze wäre durchlässiger? Wären die DDR-Bürger dann vielleicht zufriedener und der Sozialismus »freier«?“

      „Mensch, du kannst aber auch Fragen stellen!“ Tamara schnickte ihren Pferdeschwanz zur Seite. „Weißt du, mit dem Lied kann vieles gemeint sein. Aber eines ist sicher – die Karat-Band steht zur DDR. Ob alle Bürger zu ihrem Staat stehen, das allerdings kann man bezweifeln.“

      „Die Gründung der beiden deutschen Staaten geschah durch einen Akt der Besatzer“, sagte ich. „Die Meinung des Volkes spielte damals wohl keine allzu große Rolle.“

      „Was ich im Geschichtsunterricht gelernt habe, ist, dass nach dem Krieg Volksbefragungen stattfanden und sich große Mehrheiten für die Enteignung der Kriegsverbrecher und für neue demokratische Mitbestimmungsrechte fanden, jedenfalls bei uns im Osten war das so. Oder wie siehst du das?“, fragte mich Tamara.

      „Es gab im Osten wie im Westen keine Mehrheit, die gegen den Faschismus gekämpft hatte. Und es gab keine Mehrheit, die den Sozialismus auf die Tagesordnung gesetzt hatte“, antwortete ich.

      „Die antifaschistische Gesellschaftsordnung stand aber als Vorstufe des Sozialismus auf der historischen Tagesordnung“, erwiderte Tammi.

      „Ja, ja, ich weiß, zum Gründungsmythos der DDR gehörte, dass der Faschismus allein ein Problem in der BRD sei, womit man die Auseinandersetzung um eine postfaschistische Gegenwart in der damals jungen DDR leugnete – und dabei genauso zum Verschweigen verdammt war, wie hier, im nur zum Schein entnazifizierten Westdeutschland. Die SED tat dabei so, als wäre der DDR-Zustand bereits der verwirklichte Sozialismus. Und du wie ich tun so, als würden wir es glauben.“

      Emma war mit dem Thema nicht ganz so vertraut wie ich, hatte aber während ihrer Schwangerschaft das Buch »Wie wir wurden. Was wir sind« von Bernt Engelmann mit größtem Interesse gelesen. „Die DDR ist eben nicht »sozialistisch« geworden, weil die Menschen dort anders waren, sondern weil der Faschismus militärisch besiegt wurde“, meinte sie. „Die Menschen in der jungen DDR waren so nationalistisch, so faschistisch geprägt wie die im Westen. Sie sind also nicht über Nacht zu Sozialisten geworden. Sie haben es hingenommen.“

      „Da ist etwas dran“, antwortete Tamara. „Es war ein langer, langsamer Überzeugungsprozess.“

      „Der Sozialismus musste also von »oben« dekretiert werden. Ebenso konnte er nur von oben »verteidigt« werden – gegen eine Mehrheit, die damals zu keinem Zeitpunkt für einen Sozialismus, welcher Art auch immer, gekämpft hatte.“ Ich ahnte, dass es Tamara schwer fiel, hierzu etwas zu sagen. Zu sehr war sie in ihrer postfaschistischen Sozialisation befangen. Sie hatte ja ebenso wie Emma und ich keinerlei Gemeinsamkeit mehr mit der Generation der alten braunen Säcke.

      „Wir haben in der DDR halt einen »realen Sozialismus«, was so viel heißen soll: Man kann in der Gegenwart nur das an Zielen erreichen, was realistischer Weise materiell und vom Bewusstsein der Massen her machbar ist“, sagte Tamara. „Immerhin gibt es in unserem System genug Arbeit für jeden. Obdachlosigkeit, Drogenkonsum und Kriminalität sind auf unterstem Level. Unser Gesundheitssystem ist hervorragend und steht jedem offen; unser Wissenschafts- und Bildungssystem, unser Breitensport und die Friedenspolitik unserer Regierung stehen im Systemvergleich weit vorn.“

      „In der entscheidenden Mikrochip-Forschung hinkt die DDR nach“, bemerkte ich etwas beiläufig, um dann auf Tamaras Arbeit zu sprechen zu kommen und wiederholte meine Frage: „Nun sag‘ doch mal – bist du jetzt hauptberufliche Funktionärin?“

      „Nein, ich gebe doch meinen sicheren Beruf in der Maschinenbaubranche