»Wohin willst du?«, erkundigte sich Maria besorgt, als Bernhard im Trainingsanzug, den Campingbeutel geschultert, aus der Wohnung wollte. »Heute Abend bringen sie die Fortsetzung von diesem Hörspiel, in dem der Eisenbahner umgebracht worden ist. Mein Gott, bin ich neugierig, ob sein Freund der Täter ist. Was meinst du? Es kommen natürlich noch andere infrage, seine Frau zum Beispiel und dieser Heimkehrer, der da herumlungert.«
»Ich muss zum Training.«
»Wohin musst du?« Maria hielt Bernhard am Jackenärmel fest. Ihre Stimme hatte einen warnenden und zur Klage neigenden Tonfall. »Ich denke, damit ist endgültig Schluss. Habe ich nicht genug Kummer mit meinen Kindern? Rita arbeitet Tag und Nacht. Werner steckt in Uniform irgendwo an der Grenze in Thüringen. Charly treibt sich was weiß ich wo herum. Und Jinni, die Kleine, hat Fieber. Gestern Abend fast vierzig Grad. Du bleibst im Haus, Bernd!«
»Ich gehe. Ich muss gehen.«
»Du musst gar nichts«, erklärte Maria beruhigend. »Diese Sportsleute haben dich längst vergessen. Die Ärztin sagt, ich soll mich nicht aufregen. Das scheint dich nicht zu stören.«
»Aber ich will dich nicht aufregen! Du regst dich selber auf! Ich muss gehen! Das musst du einsehen: Ich kann nicht bleiben!«
»Sieh mal an. Sieh mal einer an.« Maria atmete schwer. »Du kannst nicht. Du musst. Sieh mal an. Und was wird mit dem Radio? Du hast es nicht bezahlen müssen. Das teure Gerät. Vier Abende hat es den feinen Herrn vergnügt. Vier Abende! Und nun muss er weg! Soll das Gerät nun nur herumstehen? Du gibst das Radio zurück! Du verdienst es nicht, dass ich dir ein so teures Gerät schenke!«
Die Mutter fasste ihn an den Handgelenken. Er riss sich los und ging. An der Wohnungstür blieb er stehen und sagte, ohne sich umzusehen: »Aber das Radio gehört mir. Du hast es mir geschenkt.«
»Du verdienst es nicht!« Die Stimme der Mutter überschlug sich. Er hörte deutlich ihre herrische Angst heraus. »Du gibst mir sofort das Radio zurück!«
Er sprang die Treppe hinunter, dann aber wieder hinauf und schrie ins Dunkel des Flurs: »Nein! Das Radio bekommst du nicht. Es gehört mir! Mir!«
Bernhard lauschte, er biss sich auf die Lippen, ballte die Hände, hustete, fragte schließlich: »Bist du – bist du noch da? Ist – ist was mit dir, Mutter …?«
Nun war ihr unterdrücktes schnelles Atmen zu hören, eine ungeduldige Bewegung ihrer Füße auf ihn zu, gleich darauf ihre verlangende Stimme: »Hast du es dir überlegt, mein Junge? Bleibst du …?«
»Nein!«
Er warf die Tür hinter sich zu und rannte davon. Spät in der Nacht kam er nach Hause. Nach dem Training war er in eine Kellerkneipe eingekehrt, hatte mit drei Kohlenträgern Siebzehn und vier gespielt und mit ihnen über ihre derben Witze gelacht. Wie immer stand die Tür von Marias Schlafzimmer spaltbreit offen. Er hörte, dass die Mutter sich im Bett aufsetzte und dass das kleine Radio Musik spielte. Er ging in sein Zimmer, warf sich aufs Bett und dachte an Afrika, dieses wilde heiße Land, das auf ihn wartete wie eine Geliebte. Unter einer heißen Sonne träumte er sich in den Schlaf.
Begegnung mit Hamlet (Verbotene Türen, 1985)
Eines Abends, als Bernhard vergebens versucht hatte, sich in den Straßen müde zu laufen, stand er vor dem Städtischen Theater am Rand der Innenstadt. Es war diese unnachgiebige Hand, von der er nachts manchmal geweckt wurde, die ihn hierhergeführt hatte. Da rief ihn eine Stimme aus dem weitläufigen Haus, an dessen Außenmauern Baugerüste aufgestellt waren. Sie verhieß ihm ein unbekanntes Abenteuer, und er folgte ihr ohne zu zögern. Es war ein dünnes, wippendes Seil, auf dem er in das Theater gehen musste, Schritt für Schritt, balancierend, die Arme etwas gehoben, als könnten ihm in der Not Flügel wachsen.
Er kam aus der einen und ging in eine andere Welt. Alle Fremdheit verschwand wie ein Schatten, er gewann an Sicherheit, wusste, es war gewollt, dass er nun hier im Halbdunkel die Stuhlreihen entlanglief. Er setzte sich in eine hintere Stuhlreihe an den Rand und sah begierig hinauf zur Bühne.
Zurückversetzt in ferne Zeit, in ein dänisches Schloss am Meer, fand er sich in ein grausames und verwirrendes Spiel verwickelt. Von Anbeginn fühlte er sich diesem Prinzen zugeneigt, Hamlet, von dem er bereits gehört hatte, aber nichts wusste. Bernhard litt mit dem jungen Mann, der an sich zweifelte, alles infrage stellte, sich ruhelos befragte und bis zum Grund aufwühlte. Dieser Hamlet konnte sich selbst und den anderen, die ihm nahestanden, keinen Frieden geben, weil sie ihm keinen Frieden gaben. Bernhard wuchs förmlich in den Verzweifelten hinein, er atmete, dachte und sprach mit ihm aus, was da war und nicht war. So vieles verstand er nicht, aber er wusste, es war wahr. Er war sich sicher, was kommen würde und fürchtete sich nicht - sie starben gemeinsam an dem Gift, das im Schloss wie ein Gespenst umging und dem keiner entgehen konnte. Nach all dem erfahrenen Leid und den durchlittenen Ängsten empfand der Junge den Tod wie eine Erlösung.
Bernhard brauchte Zeit, bis er aus dem Spiel auf der Bühne herausfand. Der Vorhang war geschlossen, der Saal hatte sich geleert. Verwirrt sprang er auf und tastete sich im Dunkel aus dem Zuschauerraum.
Im Haus war es still. Er geriet in ein Labyrinth von schmalen Gängen, hörte verstecktes Lachen, Seufzen und Klagen, tastete an Abgründen vorbei, geriet ins Scheinwerferlicht, roch Veilchenduft und beißenden Schweiß, sah unter Engelsflügeln verzerrte Teufelsmasken, an Fäden schwangen wie im Tanz prächtige Kleider. Ein kalter Wind ging ihm unter die Haut, er rannte ein Stück, ihm wurde nicht wärmer. Hier und da stieß er an, spürte keinen Schmerz, er hatte nur den Wunsch anzukommen.
Er suchte nach der Hand, die ihn hergeführt, lauschte nach der Stimme, die ihn gerufen hatte. Niemand berührte ihn. Niemand rief nach ihm. Er versuchte, sich des Vaters und der Mutter zu erinnern. Zwischen all den Dingen sah er einen Schlosserkittel und eine weiße Schürze aufeinander zu schwingen und sich voneinander entfernen im ermüdenden Rhythmus des Perpendikels eines Regulators. Und da schwang auch er, ohne Gesicht und Körper, nur eine abgetragene dunkle Jacke. Wie blind tastete er sich weiter, er würde nie aufhören zu suchen.
Eine Tür stand offen. Er sah einen Mann vor einem großen Spiegel sitzen – es war Hamlet. Er sah in den Spiegel, sein und Hamlets Gesicht, das Gesicht eines Mannes mit kühn blickenden Augen und schmalem Mund, wortlos allen Schmerz verspottend.
Hamlet rührte sich nicht, er saß da wie durch seinen eigenen Anblick erstarrt.
Bernhard wollte es ihm zurufen, das erlösende Wort, das ihm im Traum erschien, an das er sich aber erwacht nicht erinnern konnte.
Im Spiegel sah er, dass Hamlet nun entschlossen beide Hände hob und sich die wie pures Gold glänzenden Haare vom Kopf zog – und es kamen andere Haare ans Licht, schütter, farb- und glanzlos, an den Schläfen grau. Die Hände griffen sich vom Tischchen ein Tuch und rieben derb damit übers Gesicht, und es war, als zöge es die Haut ab, von der Stirn zur Brust hinunter. Die Stirn hatte in ihrer Mitte eine narbenähnliche Kerbe, die den Eindruck erweckte, als sei sie gespalten. Aus den Augen verlor sich alles Aufbegehren in Müdigkeit. Die edle Nase drückte sich zwischen krankhaft geröteten Wangen in die Breite. Und der Mund – der zu sagen gewagt hatte, wovon sonst niemand sprach – dieser Mund hatte blasse Lippen, die einander schlaff berührten.
Bernhard schwankte, wie ein gepeitschter Kreisel schien er sich um sich selbst zu drehen, er wünschte sich, dass das aufhörte, dass er stürzte und dunkel würde. Aber er blieb auf den Beinen und sah in ein Krämergesicht, das ihm, seit er sich erinnern konnte, so oder so täglich begegnet war und fortan begegnen würde. Dem Mann waren die Augen zugefallen, er war wohl eingeschlafen.
Bernhard schlich sich aus der Garderobe. Er fand schnell den Ausgang des Theaters. Es war eine sternenklare kalte Nacht, er knöpfte sich die Jacke bis oben