Charly sah welk aus wie eine Blume, in deren Blüte der Regen geraten war. Er blickte nun immer öfter zum Haus, als suche er Hilfe.
Bernhard verabschiedete sich eilig. Charly nahm ihm das Versprechen ab, bald wiederzukommen, damit würden sie über alles reden, über die ganze verdammte Sippschaft, das verspreche er, jetzt müsse er arbeiten, das nächste Mal aber ...
Bernhards Weggehen aus Charlys Paradies glich einer Flucht. Auf der Straße trat er in die Pedale, wagte nicht, sich umzusehen. Er wusste, Henriette Rausch kam sogleich aus dem Haus getrippelt. Charly barg seinen Kopf in ihrem Schoß und weinte wie ein kleines Kind. Bernhard schämte sich, für den Bruder, für sich, für alle. Er bezichtigte sich der Feigheit, des Verrates an der Wahrheit. Aber er brachte es nicht fertig, dem Bruder zu sagen, dass er mit seinem Schreiben log, dass er ihnen nicht nur andere Namen und ein anderes Aussehen gegeben hatte, sondern dass er sie leben ließ, wie sie nie gelebt hatten. Oh, Charlys Zauber war falsch. Seine Blumen waren aus Papier, die Sterne aus Flitter, die Herzen aus Stoff. Bernhard erschien es, als lebte der Bruder auf einem anderen Stern, von seinem Lichtjahre entfernt. Charly spielte nur Theater, und doch hätte Bernhard in seinem Stück liebend gern eine Rolle übernommen, vielleicht dass es ihm gelänge, Tränen und Lachen echt werden zu lassen.
Liebgott (Aus der eigenen Haut, 2000)
Die Flucht aus Schlesien war den Teichmanns endlos erschienen. Nun war der Krieg zu Ende, und sie hatten in Leipzig eine Wohnung gefunden. Dem Haus war von einer Bombe das Dach weggerissen worden. Sie wohnten zu fünft in einer nasskalten Erdgeschosswohnung. Im Haus und im dunklen Hinterhof roch es nach Fäulnis und Urin.
Bernhard war dreizehn Jahre alt geworden. Er verliebte sich in irgendwelche Frauen, denen er hier und da begegnete oder die aus Zeitungskiosken von bunten Illustrierten seinen Blick auf sich zogen. Es waren blonde, blauäugige Frauen mit Engelsgesichtern und üppigen Körperformen.
Aus tiefstem Herzen hasste er seinen Klassenlehrer. Herr Lohmers wurde von den Schülern Liebgott gerufen. Er war etwa fünfzig Jahre alt, groß gewachsen, hatte einen kleinen Buckel und ein faltiges Gesicht. Auf der entzündeten Nase saß eine Brille mit starken Gläsern, hinter der sich wachsame Frettchenaugen versteckten.
In Bernhards Klasse gab es nur Jungen, die ständig in Prügeleien verwickelt waren. Sie lagen auf der Lauer, um einen Apfel oder ein Stück Brot zu erbeuten. Nach einer wilden Pausenschlägerei stand plötzlich Liebgott im Klassenzimmer.
»Aber, aber. Was geht denn hier vor, meine Lieben?«, erkundigte der Lehrer sich mit milder Stimme. »Das sieht ja so aus, als wäret ihr ungehorsam.«
Die Jungen rannten zu ihren Plätzen und standen soldatisch stramm. Nur Bernhard war nach Luft ringend stehen geblieben. Sein Kopf schmerzte, das Hemd war zerrissen, und sein Hunger war nicht gestillt.
Liebgotts Gesicht verzog sich angewidert. Mit zwei Fingern fasste er Bernhards Hemd, ließ gleich wieder los, als hätte er sich verbrannt.
»Pfui, du blutest ja.« Der Lehrer hielt ihm einen Taschenspiegel vor Augen.
Bernhard sah in ein Jungengesicht, das anscheinend seins war. Der Lehrer fragte mit öliger Stimme: »Erkennst du dich?« Der Junge nickte widerwillig.
Liebgott fragte mit öliger Stimme: »Bereust du dein tierisches Verhalten?«
Bernhard schüttelte trotzig den Kopf.
Liebgott zog ein Lineal aus seinem Jackenärmel. Bernhard streckt automatisch die Hände vor und schloss die Augen. Siebenmal spürte er einen brennenden Schmerz auf den Handflächen.
Dann befahl Liebgott: »Stell dich mit dem Gesicht zur Wand. Und bis morgen schreibst du hundertmal in Schönschrift und ohne Fehler: Bernhard Teichmann ist seinem Lehrer ungehorsam. Nun bedanke dich bei mir, mein Junge, weil ich dir helfe, den rechten Weg zu finden.«
Die Jungen begegneten einander und anderen Lehrern ungezügelt und unbarmherzig. Aber bei Liebgott waren sie wie hölzerne Puppen. Nur auf seinen Fadenzug standen sie vom Platz auf und setzten sich wieder. Sie sprachen nur, wenn sie vom Lehrer gefragt wurden.
Liebgott war gehasst und gefürchtet von Schülern und Eltern. Wenn der Entscheid über die Versetzung in die nächsthöhere Klasse bevorstand, gaben die Eltern ihren Kindern Päckchen mit. In ihnen befanden sich ein paar Kaffeebohnen, ein viertel Stück Butter oder eine selbst gemachte Wurst. Die Jungen legten ihre Päckchen, auf denen ihr Name stand, vor der Mittagspause hinter die Tafel. Wenn sie vom Hofgang zurückkamen, waren die Päckchen verschwunden.
Liebgott verkündete dann mit Predigerstimme: »Gutes soll nicht unbelohnt bleiben, meine Söhne. Jakob, Wehrmann, Richter, Gruner - ihr bekommt in Fleiß und Rechnen eine Zwei. Ihr gebt euch viel Mühe. Das verdient Anerkennung.«
Der Lehrer zog aus seiner Aktentasche einen Stoß Heiligenbilder und überreichte jedem der Belobigten eins. Die Heiligenbilder waren von allen Schülern sehr begehrt. Sie waren bunt und aus Glanzpapier, und manchmal zeigten sie Abbildungen schöner Frauen.
Am begehrtesten waren die von der Jungfrau Maria. Die Heilige stand an eine Mauer gelehnt, den keuschen Blick auf ihre über der Brust zum Gebet gefalteten Hände gerichtet. Die Jungen radierten so lange am Kleid der Jungfrau Maria herum, bis sie nackt zu sehen war. Mit ein paar Bleistiftstrichen gaben sie ihr, was der Maler aus frommer Überlegung mit dem Kleid verhüllt hatte.
Als Liebgott davon erfuhr, verteilt er nur noch Bilder des Kampfes zwischen David und Goliath. Aber die Schüler malten ihnen pralle Brüste und Hinterteile, so dass die Streitenden als nackte Weiber ihren Kampf fortsetzten.
Auch Maria, Bernhards Mutter, hatte mehrmals versucht, ihrem Sohn ein Päckchen mit vom Munde abgesparten Lebensmitteln mitzugeben. Bernhard spürte, dass der Lehrer auch von ihm diesen Tribut verlangte. Aber gerade darum weigerte er sich, so ein Päckchen mit in die Schule zu nehmen.
Von Liebgott bekam Bernhard immer schlechtere Zensuren. Wegen Nichtigkeiten ließ er ihn sich stundenlang mit dem Gesicht zur Wand stellen. Bernhards Handflächen waren von den vielen Schlägen mit einer Hornhautschicht überzogen.
Bernhards Mitschüler beobachteten gespannt, wie der ungleiche Kampf zwischen Lehrer und Schüler ausgehen würde. Sie schlossen eifrig Wetten ab. Nur die Stärksten von ihnen gaben Bernhard eine Chance.
Zum Schuljahresende spitzte sich die Auseinandersetzung zu. Liebgotts mahnende Briefe an Bernhards Mutter häuften sich. Er teilte ihr mit, dass Bernhard versetzungsgefährdet sei. Sein Fleiß und vor allem seine Disziplin ließen doch sehr zu wünschen übrig. Überhaupt wisse er nicht, was aus dem Jungen werden solle, wenn er nicht recht bald Einsehen zeigen würde.
Bernhard dachte ernsthaft daran, Liebgott umzubringen. Er schloss die Augen und sah sich einen Pfeil abschießen, der dem Lehrer in die Brust drang und ihn zu Boden sinken ließ. Oder er reichte ihm ein Bonbon, das Liebgott schmatzend lutschte, bis dann das Gift wirkte: Zuerst wurde ihm übel – dann traten seine Augen heraus – er begann zu röcheln, kippte auf die knarrenden Dielen des Klassenzimmers und flehte um Hilfe.
»Das Bonbon war vergiftet«, sagte Bernhard lächelnd. »Es gibt keine Rettung mehr. Nun weiß ich wirklich nicht, was aus Ihnen werden soll.«
Aber Tagträume halfen dem Jungen nicht, das Problem zu lösen. Ihm musste etwas einfallen, wenn er dem Lehrer nicht unterliegen wollte.
In die Mädchenklasse Gleichaltriger war eine Neue gekommen: Margitta Krüger. Vergessen waren die blonden Frauen mit den Engelsgesichtern und die heiligen Weiber mit den Riesenbrüsten. Margitta war klein und zierlich. Sie hatte schwarze Haare, die sie zu einem Pferdeschwanz gebunden trug. Ihre Brüste waren nur zu ahnen. Ihre Haut war tief gebräunt. In ihrer Nähe roch es aufregend nach Schweiß. Und sie war von einem