Anschließend schritt sie den Mittelgang entlang, bis sie unter der runden, galerieartigen Hauptkuppel stand. Sie schaute nach oben und war überwältigt. Die beeindruckende Kuppel wurde von vier mächtigen Säulen getragen, an deren oberen Enden vier steinerne Engel mit ausgebreiteten Flügeln herausgearbeitet waren. In der Kuppel war eine begehbare Säulengalerie und darüber Fenster, durch die die Kuppel tagsüber bestimmt herrlich mit Licht durchflutete wurde.
Dann sah sie vom Mittelgang aus nach vorn, in den Altarraum, der sich unter einer halbkreisförmigen Kuppel befand, die sich in ihre Blickrichtung öffnete. Diese Kuppel war in leuchtendem Blau gehalten, die Figuren darin überwiegend in Weiß und Gold. Das Zentrum bildete eine Jesusfigur in weißem Gewand. Auf seiner Brust strahlte ein goldenes Herz und seine Arme waren so weit ausgebreitet, als wollte er jeden einzelnen Menschen auf dieser Welt zu sich einladen.
Von der Atmosphäre und der Botschaft hinter dem Bildnis zutiefst berührt, lief ihr eine Träne die Wange herunter. Nach ein paar Augenblicken murmelte sie: „Und ich dämliche Kuh habe meinen Reiseführer in der Metro liegen lassen und kann nicht mal nachschlagen, von wem diese Wandmalerei ist.“
„Es ist eigentlich keine Malerei, sondern ein Mosaik, mit 475 Quadratmetern eines der größten der Welt und wurde von Luc-Olivier Merson im Jahr 1922 vollendet. Es stellt das heilige Herz Jesu dar, gemäß dem Namen dieser Wallfahrtskirche: Sacré-Cœur, heiliges Herz.“
Verblüfft wandte sie ihren Blick zu dem unverschämt gut aussehenden jungen Mann, der sie angesprochen hatte. Er war kein Franzose, wie sich herausstellte, sondern ein Landsmann. Wie ein vollendeter Gentleman stellte er sich bei ihr vor und bot an, ihr etwas über die Kirche zu erzählen.
Als sie ihn am Ende fragte, ob er in seinem Alter schon Professor für Kunstgeschichte sei, grinste er wie ein Schuljunge, dem ein Streich gelungen war, und beichtete, dass er den Reiseführer gelesen und einfach ein gutes Gedächtnis habe. Allerdings kenne er sich in Paris gut aus und würde sie gern durch die Stadt führen.
Er sah umwerfend aus, groß, muskulös und brachte sie zum Lachen. In seinen Augen blitzte der Schalk und das machte ihn umso sympathischer, aber sie lehnte trotzdem ab. Zum einen hatte man sie zur Vorsicht gegenüber Fremden erzogen, zum anderen befand sie sich in einer riesigen Metropole fernab der Heimat.
Obwohl es ihr sehr schwer fiel, sich später von ihm zu verabschieden, verließ sie die Kirche ohne ihn.
Der lange Tag im Museum hatte sie völlig geschafft, und was ein kurzer Rundgang im Viertel Montmartre werden sollte, wurde nun zur Odyssee, weil sie den Weg zur Metro nicht mehr fand. Es war schon spät und im Gewirr dunkler, verlassener Gassen kam ihr eine Gruppe dunkelhäutiger, junger Erwachsener entgegen. Sie umringten sie, machten erst irgendwelche Späße, die sie mit ihren bescheidenen Sprachkenntnissen nicht zu übersetzen vermochte, und zogen sie dann lachend mit sich. Sie verstand das schnell gesprochene Französisch nicht, doch ihre Bemerkungen wirkten anzüglich, ebenso wie ihre Blicke, und zusammen mit dem starken Geruch von Alkohol bekam sie furchtbare Angst. Erst versuchte sie mit gestammeltem Französisch und Gesten ihre Ablehnung zu verdeutlichen und sich zu verabschieden, doch die Gruppe ließ sie nicht gehen. Als sie schließlich in reiner Panik aus dem Kreis ausbrechen wollte, kippte die Stimmung.
Plötzlich tauchte der Mann aus der Kirche wieder auf und kam freudestrahlend auf sie zu, als wäre er ihr Liebhaber und hätte sie nur aus den Augen verloren.
„Oh, ma chérie! Tu es ici!“
Er schob sich in den Kreis der jungen Männer, legte beruhigend einen Arm um sie und küsste sie – mehr als nur flüchtig. Sie hätte es wohl genossen, wäre die Stimmung der Männer nicht auf einen Schlag aggressiv geworden. Die alkoholisierten Kerle versuchten ihn grob wegzuzerren, einer holte bereits zum Schlag aus.
Sie schrie wie ein kleines, verängstigtes Mädchen, duckte sich instinktiv und schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, lagen drei der betrunkenen Männer am Boden, zwei bluteten aus der Nase, der dritte hielt sich zusammengekrümmt den Bauch. Ein weiterer Kerl wollte gerade nach ihr greifen, bekam von ihrem Landsmann aber den mächtigsten Kinnhaken, den sie je gesehen hatte.
„Verschwindet! Sie gehört zu mir!“, brüllte er auf Französisch – zumindest das gab ihr Sprachwissen noch her.
Während sich die Horde taumelnd zusammenrottete, stellte ihr Retter sich schützend vor sie und seine Haltung zeigte, dass er jeden angreifen würde, der sich ihr näherte. Als die Gruppe um die nächste Ecke verschwunden war, schloss er sie in seine Arme, streichelte beruhigend ihren Rücken und murmelte: „Sie hätten dich nur über meine Leiche gekriegt.“ – Ebendas hatte sich Jahre später bewahrheitet, obwohl ihr die absolute Gewissheit darüber immer noch fehlte.
Damals in Paris war sie nach der ganzen Aufregung hellwach gewesen und nahm sein Angebot doch noch an. Der Abend verwandelte sich in einen der schönsten ihres ganzen Lebens. Kurz vor Morgengrauen setzte er sie vor ihrem Hotel ab und zum ersten Mal in ihrem Leben gab sie einem erwachsenen Mann mit eindeutiger Absicht ihre Telefonnummer und Adresse.
„Wir leben in der gleichen Stadt“, hatte er überrascht festgestellt und sie hätte vor Freude explodieren können.
Bald nach ihrer Rückkehr trafen sie sich, unternahmen verrückte Sachen, lachten und kamen sich immer näher. Unzählige schöne Abende verbrachten sie zusammen, einige waren aufregend, andere gemütlich. Ihm gingen nie die Ideen für ihre gemeinsame Zeit aus. Und obwohl es heftig zwischen ihnen knisterte, hielt er sich stets zurück. Er wartete, bis sie sich wirklich gut kannten und Jo sich ganz sicher war. Dann stattete er ihren Eltern noch in altmodischer Art einen Besuch ab, samt Blumenstrauß für die Mama, und stellte sich sozusagen offiziell vor. Erst danach flog er mit ihr ein zweites Mal nach Paris.
Im Kerzenschein zupfte er die Blütenblätter von fünfzig Rosen ab und verteilte sie auf dem Himmelbett der Hotelsuite mit Aussicht auf den Eiffelturm.
In dieser wunderbaren Nacht gaben sie sich einander ganz hin und sie war glücklich, dass es vor ihm nie einen anderen gegeben hatte. Dieser Mann schenkte ihr in so vieler Hinsicht immer mehr als er nahm. Er wurde die Liebe ihres Lebens und das Licht in ihrer dunkelsten Stunde.
Ohne zu zögern, hätte sie für ihn ihr Leben gegeben, aber am Ende opferte er seines für sie und ihren Sohn. Das nahm sie zumindest an, denn ihre Erinnerung daran war ausradiert worden. Entgegen einem kleinen Funken Hoffnung, er wäre vielleicht nur verschleppt worden, hatte ihr Herz seinen Tod irgendwie gespürt, und war in Trauer und Einsamkeit verfallen. Ihr Sohn war der einzige Grund, warum sie sich ins Leben zurückgekämpft hatte.
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