Die letzten Jäger des blauen Planeten. Jörg Meyer-Kossert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jörg Meyer-Kossert
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742761897
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Tom fast ganz vergessen.

      Er studierte seine Hunde genau. Ihre Reaktionen auf seine Kommandos schienen ihm noch immer nicht ganz richtig. Aber ihre ungestüme Kraft und das Temperament, mit dem sie nach vorn drängten, waren seiner eigenen Art, durchs Leben zu gehen, nur allzu ähnlich. Seinen Augen und sein Kopf wurden von den Hunden wie magisch nach vorn gezogen. Längst bemerkte er die eisige Kälte auf seinen Wangen nicht mehr. Er sah nur noch die sanfte, weiße Schneedecke vor sich und den Horizont, der ihm scheinbar immer näher kam. Sein Herz fing an, im Rhythmus der trommelnden Pfoten zu schlagen, und sein Atem glich immer mehr dem Hecheln der Hunde. Seine Beine schienen zu rennen. Er rannte mit Nanook und Imbra. Der Schnee, den ihre Pfoten aufwirbelten, spritzte links und rechts am Schlitten vorbei, und Max flog wie in Trance in die unendliche Weite seines Traums hinein.

      Sie hatten den See und den anschließenden Fluss hinter sich gelassen und kamen nach einer Stunde an die offene Hudson Bay. Als Tom sah, wie Max geradewegs auf eine vor ihm liegende Schneeverwehung zufuhr, witterte er seine Chance.

      „Jetzt hab ich dich! Links, lauft links“, rief er seinen Hunden zu. Er machte einen weiten Bogen und fiel dadurch noch mehr zurück. Aber dann kam Max in den Tiefschnee. Seine Hunde fingen an zu springen. Max wurde langsamer und verlor seine Fahrt. In wenigen Minuten war Tom mit ihm auf gleicher Höhe und flog förmlich an seinem Freund vorbei.

      „Und jetzt bekommst du für diese Frechheit noch eine kleine Lektion“, murmelte Tom in seinen Bart. Er ließ seinen Hunden jetzt freien Lauf, und nach einer Viertelstunde wurde Tom immer kleiner und verschwand endlich ganz aus Max’ Gesichtsfeld. Verdammt, was hat der vor, ging es Max durch den Kopf. Als er Tom schließlich gar nicht mehr sehen konnte, hielt er seine Hunde an. Auf dem See und den Flüssen kannte er sich gut aus. Aber hier draußen war er noch nicht gewesen. Er war weit vom Ufer entfernt und merkte erst jetzt, dass er die Orientierung verloren hatte.

      Tom wird schon zurückkommen, dachte er bei sich. Als sich die Hunde langsam beruhigt hatten, hörte er, wie unruhig das Eis war. Es knackte in unregelmäßigen Abständen, als wenn es ihm drohen wollte, und dann folgte eine beunruhigende Stille. Max setzte sich auf seinen Schlitten. Von Tom war keine Spur zu sehen. Plötzlich hörte er einen Peitschenknall, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Max blickte sich erschrocken um. Weit und breit war niemand zu sehen. Natürlich nicht! Was hatte er sich gedacht! Der Schreck saß ihm tief in den Gliedern. Er dachte an Toms Warnungen über die Spannungen im Eis und die Risse. Da war es wieder. Diesmal klang es ganz anders, eher wie traurige Stimmen aus der Tiefe, unbekannt und bedrohlich.

      Wo Tom bloß steckte? Die Geräusche und das Knallen schienen völlig unkalkulierbar. Dann sah er auch die starken Risse im Eis. Mit fiebriger Hast versuchte Max wieder Ordnung in die Hunde und das Geschirr zu bekommen. Aber das war mehr als schwierig. Bei der Abfahrt hatte Tom alles gerichtet. Es hatte so spielerisch und einfach ausgesehen, und Max begriff, dass es reichlich naiv von ihm gewesen war, sich so sicher auf dem Schlitten zu fühlen. Es fehlten ihm die grundlegendsten Dinge. Allmählich ergriff ihn echte Sorge, und er blickte sich immer wieder um, ob Tom nicht zu sehen war.

      Die Hunde sprangen durcheinander. Sein Zurufen entfachte mehr Verwirrung, als dass es Ordnung stiftete. Erst nach mehreren erfolglosen Versuchen brachte er sein Gespann endlich einigermaßen vor dem Schlitten in Gang. Zwar hatten die Leinen sich reichlich verdreht, aber Max war froh, endlich wieder zu fahren. Nach einiger Zeit tauchte ein kleiner Punkt vor ihm auf. Beim Näherkommen stellte er fest, dass es Tom war. Er atmete erleichtert durch.

      Tom saß genüsslich grinsend auf seinem Schlitten und schlürfte einen heißen Tee.

      „Okay, okay.“, meinte Max, nachdem er seinen Schlitten zum Halten gebracht hatte. „Es war wohl etwas verfrüht, dir meine hinteren Kufen zeigen zu wollen.“

      „Etwas?“, höhnte Tom. „Viel zu früh. Das hier ist doch kein Hundesportrennen in Toronto. Du bist hier in der Wildnis. An jeder Ecke lauert eine Gefahr. Und da benimmst du dich wie ein kleiner

      Junge auf der Rennbahn.“

      Das hatte gesessen. Max hatte begriffen, was Tom ihm sagen wollte. Er setzte sich neben ihn, und dann lachten sie beide. Tom war zwar erst einundzwanzig Jahre, aber ein alter Hase, was diese Dinge betraf. Seit vier Jahren besuchte er Hunderennen in Nunavut und Manitoba und hatte manchem Einheimischen schon Kenntnisse voraus. Nicht zuletzt weil er mit etwas mehr Distanz auch die Fehler in den Gebräuchen der Inuit sah und Verbesserungsideen entwickelt hatte. Auf der Heimfahrt zeigte Tom ihm kleine Wasserlöcher mitten im Eis.

      „Diese Löcher graben die Robben selbst, damit sie an die Luft kommen und atmen können“, sagte Tom. „Die Inuit nennen sie Aglou. An solchen Löchern werden wir Jagd auf die Robben machen können. Aber es wird noch zwei Wochen dauern, bis das Eis dort draußen dick genug ist.“

      Max war es egal. Er war trotz Toms zwischenzeitlichem Verschwinden voller Begeisterung über ihren Ausflug. Das Leben an der Hudson Bay war ihm ein ganzes Stück näher gerückt.

      6 Cleveland, April 2018

      Malachy war auf dem Weg zum Büro des Medical-Tribune. Er wollte mit dem Chefredakteur reden. Aber Malachy musste sich in Geduld üben und erkennen, mit welchen Mitteln auf dieser Ebene gekämpft wurde. Eines dieser Mittel war jedenfalls die Zeit. Es vergingen noch Wochen, bis Malachy an ihn herankam.

      „Warum wollen sie den Artikel, der schon damals nicht besonders lesenswert war, denn jetzt unbedingt schreiben?“, fragte Mister Shepard. „Warum sind sie bloß so hartnäckig in dieser Sache?“ Mal musste mit der Wahrheit heraus, ob er wollte oder nicht. „Weil es eine aktuelle Entwicklung gibt, die den Artikel besonders interessant werden lässt.“

      „Aber ich habe ihnen doch schon damals gesagt, dass es für unsere Zeitung nicht förderlich ist, in dieser Richtung zu schreiben. Wir vertreten weitestgehend die herrschende Lehrmeinung der amerikanischen Medizin. Da können wir nicht deren Methoden derart scharf unters Messer nehmen. Jedenfalls nicht in einer so kritischen Situation.“ Mr. Shepard wirkte etwas verlegen. „Ich frage mich sowieso, welche aktuelle Entwicklung Sie meinen.“ Mal erklärte ihm vorsichtig, was er wusste, ohne jedoch im Entferntesten seine Quellen zu nennen.

      „Und woher haben sie diese Kenntnisse?“, fragte Shepard. „Ich nehme an, aus den gleichen Quellen, aus denen Sie sich informiert haben.“

      Durch diese geschickte Antwort hatte Mal ihm den Wind aus den Segeln genommen. Das Gespräch wurde jetzt schärfer.

      „Aber ich schreibe doch gar nicht gegen eine künstliche Befruchtung“, versuchte Malachy es noch einmal. „Vielmehr gegen das Konzept, das nicht stimmt. Verstehen Sie, die Durchführung ist nicht die richtige!“

      Das Gespräch lief noch einige Minuten weiter, ohne dass sie sich hätten verständigen können. Am Ende war Mal allerdings klar geworden, entweder würde er die Finger von dem Artikel lassen oder er wäre den Job bei der Zeitung los. Wütend verließ er das Büro. Wenn die Sache so ernst war, warum begannen sie nicht mit einer groß angelegten Suche in vielen Forschungslabors? Das war zwar nicht mehr mit Geheimhaltung zu machen, brachte aber doch allemal einen schnelleren Erfolg, als wenn nur wenige daran arbeiteten.

      In den nächsten Wochen tauchte Malachy des Öfteren bei Robin im Labor auf und las sich in dessen Unterlagen in das Thema „Genveränderungen“ ein. Aber irgendwie kam er an einem bestimmten Punkt nicht weiter. Und so verlor das Thema im Laufe der nächsten drei Monate an Wichtigkeit. Bis plötzlich die ganze Sache einen neuen Anstoß erhielt.

      Wieder einmal steckte Chuck dahinter. Er rief morgens bei Malachy an.

      „Hi, Mal. Was machen deine Studien in Sachen Gentechnik? Ich hab da eine Neuigkeit. Du hast doch das Problem, wie die Genmutation so schnell und auf so breiter Basis vonstatten gehen könnte.“

      In den folgenden Bruchteilen von Sekunden sah Mal Chucks Gesicht förmlich vor sich, wie er seinen Wissensvorsprung genoss und sich in diesem Wohlgefühl sonnte.

      „Wie wäre es, wenn die Verbreitung von menschlicher Hand gesteuert wurde? Wäre der Geburteneinbruch