Die Psychologie der Massen. Gustav Le Bon. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gustav Le Bon
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783752931525
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Wissenschaftstheorie und -geschichte und darüber hinausgehende Entwicklungen zum Thema Massen vorlegen. Sie meinen, Le Bon fehle der Blick aus dem Inneren der Masse – er reklamiere moralische Autorität, ohne sich dem Gegenstand methodisch anzunähern. Eine völlig andere Konzeption der Masse als bei Le Bon findet sich bei Sigmund Freud: Er wendete seine, für die individuelle Psyche gewonnenen Erkenntnisse auf Massenbewegungen an und formulierte sie in Massenpsychologie und Ich-Analyse aus. Anders als Le Bon, so bemerken Gebauer und Rücker, erschließt sich Freud nun der Blick vom Inneren der Masse. Die Hypnosetheorie übernimmt Freud von Le Bon, betont aber, dass das Individuum in der Masse keine neuen Eigenschaften erhielte, vielmehr würde das durch die Menschenmenge veränderte Ich vom Unterbewusstsein gelenkt: Es sind „Eben Äußerungen dieses Unterbewussten, in dem ja alles Böse der Menschenseele in der Anlage enthalten ist.“

       Menschenschwärze

      Wo Freud noch scheinbar zurückhaltend vom Bösen im Menschen, das sich bei Massenbewegungen offenbart, spricht, nimmt sich der Philosoph Peter Sloterdijk schon im Titel seiner Abhandlung zum selben Thema kein Blatt vor den Mund: Die Verachtung der Massen. Dabei setzt er sich vor allem mit dem für ihn wichtigstem Buch zum Thema auseinander, Elias Canettis Masse und Macht. Anders als andere Soziologen und Sozialpsychologen scheue sich Canetti, so Sloterdijk, nicht davor, die Masse als das zu benennen, was sie ist: ein purer Sog. Canettis Formulierung, „Plötzlich alles schwarz von Menschen“, nimmt Sloterdijk zum Anlass, die demokratie- und vernunftsgefährdenden Eigenschaften von Massen zu benennen: „In diesem Augenblick kollabiert die vernunftromantische Vision vom demokratischen Subjekt, das wissen könnte, was es will; der Traum vom selbsttransparenten Kollektiv ist verflogen, das sozialphilosophische Phantasma von einer Umarmung zwischen Weltgeist und Kollektiv zerschellt an einem Block aus unauflöslicher Dunkelheit: Menschenschwärze.“

      „Die postmoderne Masse ist Masse ohne Potential, eine Summe aus Mikroanarchismen und Einsammelten“.

      Peter Sloterdijk

      Dass das Zeitalter der Massen vorbei sei, wie von der Mehrheit der zeitgenössischen Soziologen behauptet, verneint Sloterdijk vehement. Die Massen hätten sich nur verändert, und zwar unter dem Einfluss der Massenmedien. Sie seien nun vielmehr anders: Bunte oder molekulare Massen.

      Individuum und Masse sind kein Widerspruch

      Auch Gebauer und Rücker stimmen mit Sloterdijk überein; obwohl wir in einer Gesellschaft der Individuen leben, sind die Massen nie verschwunden. Was wie Widerspruch klingt, argumentieren sie schlüssig, indem sie die neuen Massen von den populistischen Massen unterschieden. Beide entstehen dann, wenn viele Menschen zusammenkommen, sei es physisch oder virtuell, um ein gemeinsames Ziel zu verfolgen. Der Unterschied liegt mit Gebauer und Rücker darin, dass sich die von ihnen so bezeichneten neuen Massen nicht in einem Kollektivsubjekt Masse auflösen. Damit wollen sie die Vorstellung der bewusstlos agierenden Masse zurechtrücken. Auf die Massenphänomene der Gegenwart seien die klassischen Massentheorien nur mehr begrenzt anwendbar – die Teilnehmer an gegenwärtigen Massen feiern durch diese Teilnahme gerade ihre Individualität: „Die Einzelnen bilden als Fragmente die ganze Masse ab; diese nimmt den Charakter eines Individuums an.“ So entstünde die neue Macht der Einzelnen und der neuen Massen, was auch veranschaulicht, dass die neuen Massenphänomene den Einzelnen nicht aus kollektiven Zwängen befreien. Das Leben in einer pluralistischen Gesellschaft bedingt, dass konkurrierende Massen existieren, wodurch jede Masse dazu gezwungen wird, ihre Einzigartigkeit stets aufs Neue zu beweisen.

      „Die Pluralisierung der Gesellschaft führ zu einer Pluralisierung der Massen“.

      Gunter Gebauer/Sven Rücker

      Den bitteren Beigeschmack des Destruktiven haben auch diese neuen Massen nicht verloren, vor allem, wenn man davon ausgeht, dass die politische Willensbildung in einer Demokratie von politischen Institutionen organisiert und artikuliert wird – anschauliches Beispiel ist die im Aufschwung befindliche Bewegung Extinction Rebellion, deren Mitgründer Roger Hallam sich nicht scheut, die Demokratie per se in Frage zu stellen.

       Massen, Hysteria

      Der Publizist Douglas Murray sieht in seinem jüngst erschienen Buch, Wahnsinn der Massen das grundsätzlich zu begrüßende Phänomen des Strebens nach einer besseren Gesellschaft in seinem Exzess als Problem. Wichtige Errungenschaften unserer Gesellschaft, wie die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern, zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft und sexueller Orientierung, würden durch ausartende Massenhysterie untergraben, weil durch das ständige Ringen um die Anerkennung jedes Einzelnen über das Ziel hinausgeschossen wird. Und zwar im Namen der Identitätspolitik. Vor allem durch den Wettkampf der schon von Gebauer und Rücker erwähnten sich ständig vermehrenden unterschiedlichen Gruppen – oder: Massen – drohe eine Zukunft, in der Rassismus mit Rassismus beantwortet wird, in der die Reaktion auf geschlechtsbedingte Diskriminierung geschlechtsbedingte Diskriminierung ist: „Ist ein gewisser Punkt der Erniedrigung erst einmal erreicht, gibt es keinen triftigen Grund für Mehrheitsgruppen, nicht mit denselben Waffen zurückzuschlagen, die auch in ihrem Fall so wunderbar funktioniert haben.“ Anstatt die Gemüter zu beruhigen, kommt es zur ständigen Spannung und Reibung unterschiedlicher Gruppen. Hier spielt auch die gesellschaftliche Moral, die damit auf eine neue Grundlage gestellt wird, eine tragende Rolle, so Murray: „Aus dem Kampf um ihre (Anmerkung: Diskriminierte) Belange und dem Eintreten für ihre Anliegen ist eine Möglichkeit geworden, sich und der Welt zu beweisen, dass man zu den Guten gehört.“

      Interessant ist, dass uns Identitätspolitik also, obwohl wir im Zeitalter des Individualismus leben, mit ihrem tribalistischen Gruppendenken wieder in die Wir-Form zu pressen versucht. Da es in einer pluralen Gesellschaft nun aber entsprechend viele Identitäten gibt, entstehen immer mehr, immer kleinere Gruppen. Eigentlich, wie es der Journalist Kevin D. Williamson in The smallest Minoritytreffend auf den Punkt bringt, wäre ja anzunehmen, dass das individuelle Denken des Einzelnen der Masse größter Feind ist. „What the mob hates above all is the individual, insisting on his own mind, his own morals, and his own priorities.” Und dabei geht es gar nicht um den Inhalt des Denkens des Individuums, sondern um die Tatsache, dass das Individuum denkt, was es will, ohne dass vorher mit der Masse abzusprechen und um Erlaubnis zu bitten. Wie kann es also sein, dass diese Gruppen dennoch funktionieren?

      Das berühmteste dieser Bücher ist sicherlich „Der Fürst“ von Machiavelli. Ein weiteres Buch, das fast genauso berühmt ist, ist die „Psychologie der Massen“ von Gustav Le Bon und auch das Buch „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ von Sigmund Freud ist sehr bedeutend.Es gibt Werke, die Wahrheiten aussprechen, die nicht schön sind. Sie blicken mit einer gewissen Gnadenlosigkeit auf die Realität und präsentieren dem Leser derart ungeschminkt die brutale Wahrheit über sich und seine Gesellschaft, dass man sich oft fragt, ob es gut ist, dass zu wissen, was einem da präsentiert wird.

      Ganz allgemein kann man sagen, dass die Masse nicht rational, sondern emotional handelt. Le Bon spricht hier von einer „Herrschaft des Unbewussten“: der Einzelne verliert in der Masse seine persönliche Kritikfähigkeit, seine eigene Fähigkeit, die Dinge zu hinterfragen und zu durchdenken. Hierbei spielt es eigentlich keine Rolle, so Le Bon, wie gebildet jemand ist: als Teil der Masse wird er mitgezogen.

      Die Masse denkt in Bildern. Sie braucht Material, das sofort und unmittelbar zu verarbeiten ist. Logik muss nur simuliert werden und das passiert, indem Dinge als miteinander verknüpft dargestellt werden, es aber nicht sind. Der Anschein reicht, und die Sache gilt als bewiesen – eine traurige Tatsache, die bis heute der Markenkern des Populismus ist. Die Wahrheit spielt keine Rolle: „Je dreister die Lügen, desto eher werden sie geglaubt.“

      Dies macht die Masse sehr anfällig für „Führer“: eine Masse drängt zu einem Führer. Ohne einen