BePolar. Martha Kindermann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martha Kindermann
Издательство: Bookwire
Серия: BePolarTrilogie
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748590385
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begleitet von einer Instrumentalversion der Landeshymne. Nun wird eine Landkarte gezeigt und langsam in unsere Hauptstadt gezoomt. Die graphischen Bilder verwandeln sich in Luftaufnahmen und plötzlich finden wir uns vor dem Regierungspalast wieder. Das Bild wird unscharf und die Musik verwandelt sich in reale Hintergrundgeräusche. Herr Moreno tritt auf und zeigt mit der rechten Hand in Richtung des Regierungsgebäudes.

      »Ich stehe hier vor dem Wahrzeichen unseres Landes. Hier wird die Vergangenheit abgespeichert und die Zukunft vorprogrammiert. In unterschiedlichen Gremien werden die Pfeiler dieser Gesellschaft gestrickt, gebaut und gefeilt, wieder eingerissen und neu errichtet. Ein Kreislauf, der seit Jahrzehnten zu funktionieren scheint. Alle Mitarbeiter hier sind an ein und demselben Ziel interessiert: dieses Land sicher zu machen, von Hunger und Arbeitslosigkeit zu befreien, die Familien zu stärken, die Forschung voranzutreiben, die Umweltkatastrophen einzudämmen und die Welt in kleinen Schritten ein wenig besser zu machen. Alle sieben Jahre werden neue Kräfte mit innovativen Ideen in sämtlichen Bereichen benötigt, denn die Welt dreht sich oft schneller, als wir mithalten können.

      »Ihr seid diese neuen Kräfte. Wir haben euch ganz bewusst ausgewählt, denn jeder Einzelne bringt Fähigkeiten mit, welche diesem Gefüge nützlich, ja unabdinglich, sein werden.« ›Gefüge‹, da ist es wieder dieses fremde Wort. Er ist also tatsächlich der Meinung, wir sind die Zukunft Polars? Kuno und Taranee kümmern sich als Minister um die Familienpolitik? Na, viel Spaß auch.

      »Ich kann mir vorstellen, dass ihr Zweifel hegt, ob ihr dieser Aufgabe gewachsen seid. Doch glaubt mir, Professor Pfefferhauser und unserem Team hochqualifizierter Psychologen, Pädagogen, Politikwissenschaftlern und Wirtschaftsingenieuren – ihr seid die Eleven von morgen. Ihr seid Innovation, ihr seid Perspektive, ihr seid die Zukunft!« Ich schaue mich um und blicke in hypnotisierte Gesichter. Alle starren gebannt auf Moreno. Bin ich die Einzige, die sich eigene Gedanken erlaubt? Mir schwirren unzählige Fragen im Kopf herum und ich hätte gern Raum, um meine Knoten im Gehirn zu ordnen.

      Warum bin ich hier? Warum soll ich mich auf diese dämlichen Auswahltests vorbereiten, an denen ich keinerlei Interesse habe? Warum lassen sich die anderen so blind führen? Ist dieser Moreno ein Staatsdiener auf der Suche nach jungen Talenten oder bastelt er sich seinen eigenen Fanclub aus fehlgeleiteten jugendlichen Mängelexemplaren zusammen und winkt ihnen mit leeren Versprechungen? Was immer hier vor sich geht, ich werde es früher oder später durchschauen, auch wenn ich just in diesem Moment den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen kann. Ich schließe die Augen, um den Ablenkungen des Kinosaals zu entfliehen und kurz abzutauchen.

      Unbefugten kein Zutritt

      Ich schlage die Augen auf und bin zu Hause. Mist, aus dem kurz abtauchen wird also nichts. Ich bin unsicher, ob mich das traurig stimmt oder glücklich macht. Es war alles ein Traum. Der Traum aus der vergangenen Nacht – ich konnte ihn ohne Anstrengung weiter träumen – krass.

      05:55 Uhr – noch fünfundzwanzig Minuten, bis der Wecker sich meldet. Ich drehe mich um und versuche, an die nächtlichen Geschehnisse anzuknüpfen. Der Kinosaal, Morenos Präsentation. Nichts. Sehr schade!

      Ich betrachte die abgeschliffenen Glasscherben meines Traumfängers und die unruhigen Ornamente, die sie an die Zimmerdecke zaubern. Rhea hatte recht, dieses mystische Geschenk beschert mir gute Träume – oder nennen wir sie spannend. ›Die alten Indianervölker knüpften Netze, welche die schönen Träume einfingen. Für die Bösen ließen sie in der Mitte ein Loch, um sie hindurchzulassen.‹ Die Worte meiner Schwester sind mir noch genau im Gedächtnis. Auch wenn ich kein abergläubischer Mensch bin, so üben die alten Mysterien und Riten früherer Generationen doch eine gewisse Faszination auf mich aus. Ich sage ja nicht, dass alle Träume in Erfüllung gehen, aber ein Körnchen Wahrheit wird wohl in jeder noch so abstrusen Weissagung zu finden sein.

      Als Rhea ganz am Anfang ihrer Facharztausbildung stand und deutlich öfter zu Hause war, nahm sie sich hin und wieder Zeit für meine nervtötenden Fragen. Nun weiß ich zum Beispiel, dass sich Albträume unter Stress oder allgemeiner psychischer Belastung häufen. Somit sind labile Menschen stärker betroffen als andere. Irgendwie gemein. Gerade die Ängstlichen bekommen häufig Albträume. Wenn der Glaube an die schützende Kraft des Traumfängers diesen Menschen helfen kann, so will ich ihm seinen Nutzen auf gar keinen Fall absprechen. Die Indianer glaubten daran und sie standen sehr oft unter hohem Druck. Essen besorgen, Feinde bekämpfen, aufpassen, dass keiner krank wird, dass das Wetter die Ernte nicht ruiniert oder die Götter wütend werden. Sicher spendete der Glaube an die schützenden Traumnetze ihnen und ihren Kindern Trost. Ein schöner Brauch. Rhea opferte ihre wertvolle Zeit, um für mich dieses Geschenk zu basteln. Egal, ob der Traumfänger einen nun vor dunklen Nachtschatten beschützt oder nicht, er ist ein wahrer Schatz, auch ohne Superkräfte.

      06:20 Uhr – ich quäle mich aus dem Bett. Nur noch zwei Tage bis zu den Sommerferien. In achtundvierzig Stunden ist alles vorbei und die Schule rückt für sechs Wochen in unendliche Ferne. Ich werde faulenzen, eine Woche mit meinen Eltern nach Süd fliegen und den Rest der Ferien mit Fenja und Tarik als Betreuer für Kinderfreizeiten in unserem Städtchen tätig sein. Es sollen Kinder aus allen Himmelsrichtungen anreisen, um Land und Leute besser kennen zu lernen. Wir bekommen ordentlich Feriengeld und den Spaß zu dritt gratis oben drauf. Tarik wird einen Zirkusworkshop leiten und mit den Teilnehmern jonglieren, Einrad fahren, slacken und Menschenpyramiden bauen. Fenja und ich sind für den Bus eingeteilt. Das heißt, wir unternehmen in kleineren Gruppen Ausflüge. Die letzten Jahre verlief diese Arbeit sehr chillig. Die Kinder wechseln täglich und werden somit nicht übermäßig anhänglich. Wir zeigen ihnen die Naturschutzgebiete, Forschungseinrichtungen, das Gefängnis oder unsere allseits beliebte Süßwarenfabrik. Auch wenn ich diese Orte schon unzählige Male besucht habe – der Blick aufs Honorar lässt mich darüber hinwegsehen.

      Nach dem Schulabschluss möchte ich eine Reise durch ganz Polar unternehmen. Jeden Winkel kennenlernen, alle möglichen Dialekte ertragen müssen und fremdes Essen kosten, bis ich platze. Da es voraussichtlich eine Weile dauert, bis eine junge Frau mit ein Meter siebzig und sechsundfünfzig Kilo platzt, heißt es – sparen! Ein Jahr bleibt mir und dieses werde ich nutzen, um so viel wie möglich dazu zu verdienen.

      Fenja wartet ganz aufgewühlt am vereinbarten Treffpunkt. Ich laufe einen Schritt schneller, um zu sehen, was los ist. Sie zappelt mit den Fingern und schafft es nicht, ruhig stehen zu bleiben. Irgendetwas läuft schief, das kann ich förmlich riechen.

      Als sie mich entdeckt, rennt sie in meine Arme und beginnt fürchterlich zu schluchzen.

      »Er ist…«, sagt sie mit weinerlicher Stimme.

      »Wer denn, was ist denn los mit dir? Wer ist was?« Sie krallt die Hände in meinen Rücken und drückt sich fest an mich. Die Tränenflut macht ihr das Sprechen unmöglich, also schiebe ich sie behutsam zur Rathausmauer. Wir setzen uns und ich versuche, sie mit Streicheleinheiten zu beruhigen.

      »Ganz langsam, Fenja. Ich höre dir zu.« Ihren Kopf auf meine Schulter gelegt, warte ich geduldig auf Antwort.

      »Tarik…«, ich fahre erschrocken herum.

      »Tarik? Ist ihm etwas passiert?« Fenja schnieft in ihr Taschentuch und zerknüllt es anschließend in ihren tränennassen Händen.

      »Er ist gestern auf dem Heimweg vom Park von einem Auto angefahren worden.« Ich bin wie von Sinnen. Wasser tritt mir in die Augen und ich will auf der Stelle etwas unternehmen. Wie können wir hier auf der Mauer sitzen, während er schwer verletzt… Oh verdammt…

      »Wo ist er? Liegt er im Krankenhaus? Was machen die Ärzte mit ihm? Wie lange kann das denn dauern? Können wir zu ihm?« Die unzähligen Fragen im Kopf legen meinen Verstand lahm. Ich fühle mich derartig hilflos, dass ich aufspringe und in ähnlicher Weise wie Fenja von einem Bein auf das andere trete. Ein mögliches Szenario habe ich mir noch nicht ausgemalt. Mein bester Freund könnte in diesem Augenblick bereits tot sein. Ich muss es wissen! »Fenja, sag was!«

      »Er liegt auf der Intensivstation, aber…«, den Rest höre ich nicht mehr. Die wichtigste Antwort habe ich bekommen, Tarik lebt. »Er hatte