BePolar. Martha Kindermann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martha Kindermann
Издательство: Bookwire
Серия: BePolarTrilogie
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748590385
Скачать книгу

      Prolog

      Ich schließe die Augen und sauge die kühle Luft der Ungewissheit tief in mich ein. Die Blicke der anderen brennen auf meiner Haut und ich weiß, dass es jetzt kein Zurück mehr gibt. Verdammte Zwickmühle.

      Meine zittrigen Finger krallen sich in die kalte Tischplatte, während ich versuche, aufzustehen. Leichter gesagt als getan, mit einem Stein in der Magengegend, der gut fünf Kilo auf die Waage brächte.

      Ich fokussiere die Lichter der Stadt und versuche, den inneren Ballast mit purer Willenskraft zu zerschmettern. All die Orte, an denen ich gewesen bin, schießen mir durch den Kopf. All die Menschen, die ich getroffen und jene, die ich verloren habe, ziehen vor meinem inneren Auge ihre Bahnen.

      Die Straßen sind leergefegt, die Bewohner der Stadt in ihre scheinbar sicheren Häuser zurückgekehrt. Es ist ruhig da draußen und es wird allmählich ruhig in mir.

      Sobald ich den Mund aufmache, werde ich über mein weiteres Leben entscheiden. Schwanzeinziehen ist also keine Option. Ich werde das Wagnis wählen, das Unbekannte, das Tollkühne, die Gerechtigkeit und meine Liebe, für die sich das Abenteuer lohnt. Also schlucke ich die Nervosität hinunter und beginne mit vermeintlich starker Stimme zu den Anwesenden zu sprechen.

      »Ich bin Roya«, Mist – schon fehlen mir die Worte, »Roth – also mein Nachname – aber das wissen Sie natürlich.« Atmen, denken, Atmen, reden – ganz einfach!

      »Im letzten Sommer bin ich siebzehn Jahre alt geworden. Ich lebe seit meiner Geburt in NW/74 und gehe hier zur Schule. Im nächsten Jahr werde ich den Abschluss machen und im Anschluss, na ja, wohl das Schicksal herausfordern.« Ein Schmunzeln zeigt sich auf den Gesichtern der Zuhörer. Ich senke den Blick und rücke mit einem gekonnten Handgriff die Brille zurecht. Sie lächeln, also ist alles in Ordnung, oder? Meine Worte hören sich laut ausgesprochen so falsch an, so auswendig gelernt, so kalkuliert, so endlich, so absolut nicht nach mir. Mir, der grausten Maus unter der Sonne, deren Motto ›immer schön unauffällig bleiben‹ in Großbuchstaben auf ihrer Stirn prangt.

      Als ich den Kopf hebe, sehe ich meinem Spiegelbild in der Fensterfront entgegen. Die braunen Haare hängen mir wirr über die Schultern und ich streiche sie langsam, aber bewusst hinter die Ohren. Die Maskerade muss halten.

      »Meine Schwester Rhea war es, die mich hier her gebracht hat. Ich glaube sogar, sie hat mich überall hingebracht.« Da - schon wieder – woher nehme ich diese vorgefertigten Floskeln? »Sie lehrte mich, eine Schleife zu binden, da war ich erst vier. Sie nahm mich in den Arm, wenn ich Albträume hatte und sie gab mir den nötigen Arschtritt, sobald die Schulleistungen nachließen. Bitte entschuldigen Sie die Wortwahl.« Ich kann ein Schmunzeln nicht unterdrücken, obwohl mir die Tragik der Geschichte fast den Atem nimmt. Nahezu unbemerkt wische ich eine Träne aus dem linken Auge, als mir klammheimlich ein Taschentuch zugesteckt wird. Ich danke meiner Tischnachbarin für diese aufmerksame Geste, lasse das Geschenk jedoch in der Lederjacke verschwinden. Keine Zeit für sentimentale Ausbrüche. Du willst tough wirken – erinnere dich.

      Die Gefühle sind wieder unter Kontrolle. Die innere Stimme auf lautlos gestellt.

      »Ich bin unendlich dankbar für die Zeit, die sie in meinem Leben wirken konnte und ich bin gewillt, alles zu tun, um ihr Vermächtnis weiter zu führen. Sie glaubte fest an diese Sache und opferte schlussendlich ihr eigenes Leben, um der nächsten Generation eine bessere, gerechtere, menschlichere Zukunft zu ermöglichen.« Ich sollte mich möglicherweise als Verfasserin epischer Romane versuchen.

      »Wird ihr Plan aufgehen? Werde ich es schaffen, ihre Erwartungen zu erfüllen? Kann ich der fehlende Stern am Polarhimmel sein? Ich weiß es nicht.« Ausnahmsweise die volle Wahrheit. »Aber wenn Sie mir ihr Vertrauen schenken, dann reiße ich mir verdammt nochmal den Arsch auf, um die Möglichkeit zu erhalten, etwas Außergewöhnliches zu erreichen.«

      99 Tage, 11 Stunden, 46 Minuten und 23 Sekunden zuvor

      Dring, dring, dring. Ich öffne langsam ein Auge und starre den Wecker auf meinem Nachtschränkchen an. Ich hasse ihn. Es gibt nicht viele Dinge, die ich noch mehr verabscheue, als bügeln oder Möhren reiben. Aber an einem hellen, warmen Sommermorgen von diesem Drecksding geweckt zu werden, und das an meinem Geburtstag, ist doch wirklich das Letzte. Scheiß Schule. Manchmal vermiest sie einem alles. Es wäre viel angenehmer, einen solch wichtigen Tag im Bett mit Lesen und Herumgammeln zu verbringen. Ich brauche weder Geschenke noch Glückwünsche von Leuten, die mich sonst das ganze Jahr nicht bemerken. Morgen ist ein neuer Tag, der Wecker wird wieder klingeln und keinen wird mein voranschreitendes Alter interessieren. Wozu dann also der Aufwand?

      »Roya, Liebling, alle warten auf dich!« Roya, Liebling, bäh, bäh, bäh... Am frühen Morgen ist die Stimme meiner Mutter schwer ertragbar, auch wenn sie es ja nur gut meint.

      »Komme, Moment«, antworte ich und schlüpfe schnell in meine Opahausschuhe und den lachsfarbenen Flauschebademantel. Ach du schöner Bademantel, du erhellst mir den Morgen! In den Spiegel schaue ich nie zu so früher Stunde – hat sich irgendwie bewährt.

      Im Erdgeschoss stehen meine Lieben und singen von Kuchen, die groß sind wie Mühlsteine. Papa hat einen in den Händen, der dieser Beschreibung beängstigend nahe kommt. Mama fließen die Freudentränen und Rhea hat ein winziges Geschenk unter dem Arm, klatscht im Takt und strahlt von einem Ohr zum anderen. Das ist meine Familie. Papa Roland Roth, Mama Roberta Roth, meine Schwester Rhea, na, wenn wir es genau nehmen, wohl eher Rhea Regina Roth und ich, Roya. Die Frage, wofür wir mit solch seltsamen Namen bestraft worden sind, stelle ich mir oft, aber überwiegend bin ich glücklich, dass ich Teil dieser tollen Familie bin.

      Heute ist mein siebzehnter Geburtstag und ich bin aufgeregt, ein seltenes Gefühl. Mir kribbelt es unter den Fingerspitzen und ich tänzle auf den Zehen herum, bis ich das Geschenk öffnen darf. Es ist winzig und hellgrün eingepackt – meine Lieblingsfarbe. Ich nehme es entgegen und schaue es eine Weile an, bis ich beginne, es genüsslich auszuwickeln. Das kann bei mir schon eine Weile dauern, schließlich ist ein solch exquisites Geschenkpapier immer wieder zu gebrauchen. Eine weiße Schachtel kommt zum Vorschein, und als ich sie öffne, raschelt es. Oh wie spannend, ich will eigentlich gar nicht weiter auspacken, denn dann ist der herrliche Moment vorbei. Es liegt ein Schlüssel darin. Wir haben an jeder Tür im Haus solch einen Schlüssel. Was soll das? Ich bin verwirrt, glaube aber, genau darauf haben es meine Eltern angelegt. Was um alles in der Welt öffnet er?

      »Na komm schon, planlose Roya«, meldet sich Papa und ich wackle ihm wie ein treuer Hund hinterher die Treppe hinauf bis zum Wäscheboden. Hier war ich gefühlt ein halbes Jahrzehnt nicht mehr. Der Geruch der Kammer steigt mir in die Nase, obwohl die Tür noch verschlossen ist. Sofort erscheinen die Bilder, wie ich mit Rhea zwischen den trocknenden Bettlaken Verstecken spiele und Mama wütend durch den Hausflur tobt. »Nun, du bist an der Reihe.« Papa zeigt auf die alte Holztür mit dem goldenen Schloss und wartet gespannt. Ich bin weiterhin verwirrt. Mama schluchzt und ich habe keinen blassen Schimmer, warum.

      Na gut, ich drehe den Schlüssel im Schloss herum und bin sprachlos. Meine herzallerliebsten Eltern haben die Kammer in ein Traumland verwandelt. Die Decken sind mit dunkel- und hellblauen Chiffontüchern abgehangen, auf dem Boden liegt ein runder, flauschiger Teppich und unzählige Salzkristalllampen tauchen den Raum in ein warmes Licht. Ich schmeiße mich den beiden an den Hals. Mama schnieft und Papa meint:

      »Wenn du aus der Schule zurück bist, werden auch deine Möbel den Weg nach oben gefunden haben.« Schule, musste er das erwähnen? Ade, ihr schönen Träume und willkommen, Realität.

      Auf dem Schulhof angekommen, bemerke ich zwei mir bekannte Gestalten, welche mit dem Gesicht zu einem Baum stehen, und sehr geheimnisvoll tun. Die kleinere von beiden trägt einen blumigen Rock, grasgrüne Strumpfhosen mit Laufmaschen bis zum Knie und einen schwarzen Pullover. Die Kapuze hat sie zur Deckung tief ins Gesicht gezogen, sodass nur ein Insider die blonden Dreadlocks darunter zuordnen kann. Das andere zwielichtige Wesen mit den gebatikten Kordhosen, den unzähligen Piercings und einer Frisur, die einem explodierten Straßenköter