Durch die Hölle in die Freiheit. Gregor Kocot. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gregor Kocot
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783750225350
Скачать книгу
Aufheben machen sollte. Und dazu verletzte ich niemanden, nur mich selbst. Nur ich war es, der sich schrecklich fühlte. Erst nach zwei Tagen kam ich endlich zu mir.

      Diese Erfahrung war mir zwar sehr peinlich, brachte mich aber nicht zur Vernunft, und ich ließ mich dadurch nicht vom Alkohol abschrecken. Er hatte eine geheimnisvolle Anziehungskraft, auch wenn er stank, Schaden anrichtete und mir riesige Probleme bereitete. Ich vergab ihm immer und lud ihn wieder ein, in Körper und Psyche Gast zu sein. Es gibt wahrscheinlich keinen größeren Feind auf der Welt, der gleichzeitig so beliebt ist, wie Alkohol.

      Zum ersten Mal griff ich zum Alkohol, als ich fünfzehn war, also ein Jahr früher. Mit meinen Schulkollegen tranken wir im Sommer einen relativ hochwertigen Fruchtwein. Ich trank vielleicht ca. 300 ml. Etwas später, d. h. zum Erntefest, gab mir mein Vater symbolisch ein Glas Wein. Das war dann für mich eine große Auszeichnung. Drei Monate vor meiner ersten Alkoholvergiftung war ich mit meinem älteren Bruder Edward zu Gast auf der dörflichen Hochzeit. Dann kam ich mit alkoholischen Getränken auch ganz gut klar. Ich trank ein Dutzend Gläser Schnaps, und es war mir ganz angenehm. Ich fühlte mich fast wie ein erwachsener Mann und kam glimpflich davon. Den Schnaps trank ich ohne Eile und nahm über die ganze Hochzeit hinweg verschiedene Happen dazu.

      Zu diesem pechvollen Abend mit meinem Schulkollegen trank ich eine Flasche stinkenden Zeugs ganz schnell aus, was tatsächlich katastrophale Folgen haben konnte. Zu diesem Zeitpunkt in meinem Leben trank ich ganz selten. Der Alkohol war aber sehr geduldig, clever und schlau wie ein Fuchs. Er eroberte mich ganz langsam in kleinen Schritten. Und ich hatte gar keine Ahnung, mit wem ich es zu tun hatte und wie folgenschwer diese „Freundschaft“ sein konnte. Der Alkoholkonsum war zu diesen Zeiten nichts Verwerfliches, aber die Leute, die ihm zum Opfer fielen, waren der Gegenstand der Verachtung. Man hielt sie für Weichlinge, die nicht trinkfest waren. So war damals unsere polnische Mentalität.

      Auf diese Art und Weise schlug ich leichtsinnig den Weg ein, von dem es kein Zurück mehr gab. Es kam mich damals gar nicht in den Sinn, dass ich irgendwann ein Problem mit Alkoholkonsum haben konnte. Andrzej, ich und alle unseren Kollegen waren der Meinung, dass die Trinker, Säufer und Schluckspechte einfach Lausbuben oder Penner waren. Niemand von uns kam auf die Idee, dass gerade dieses „harmlose Trinken“, das wir praktizierten, diese Kerle in ihren elenden Zustand brachte. Höchstwahrscheinlich dachten diese Unglücksmenschen ganz ähnlich, wenn sie zum ersten Mal die Flaschen an die Lippen setzten. Auch sie glaubten, dass sie mit der Alkoholsucht nichts zu tun hatten, weil sie keine Absicht hatten, sich vom Alkohol abhängig machen zu lassen. Es gibt noch einen wichtigen Faktor, und zwar die Sehnsucht nach dem Gemeinschaftsgefühl. Kaum ein junger Mensch denkt, wenn er anfängt zum Alkohol zu greifen, darüber nach – dass er gerade wegen dieser Sehnsucht dem Alkohol zum Opfer fallen und zum gesellschaftlichen Außenseiter, zum Penner auf der Parkbank, zum Schluckspecht oder unglücklichen Obdachlosen, zum verachteten und ungewollten Abschaum werden kann. Wer rechnet überhaupt damit?

      Wenn ein junger Mensch, ehe er zum ersten Mal zum Alkohol greift, überlegen würde, wenn er zunächst darüber nachdenken würde, mit wem er zu tun hat und ob es sich tatsächlich lohnt, diesen größten Dieb und Lügner in den Mund zu nehmen… Wenn er sich das Unglück und Elend anschauen würde, welches die Menschen durch Alkohol erleben, sowie die Schäden, die sich die Leute durch übermäßigen Konsum selbst zufügen! Wenn er sich so reiflich überlegen würde, so würde dieser Giftstoff bestimmt nicht zu seinem Leben durchdringen und es nicht „besudeln“. So würde ihm dadurch ein bedauerliches Schicksal erspart, das man nicht mal seinem Erzfeind wünscht.

      Nur ein Schritt vor dem Tod

      Fünf Monate nach dem Tod meines Vaters machte ich eine Erfahrung, die beinahe dazu führte, dass ich meinem Vater hinüber folgte. Ich machte mein Schulpraktikum in der Eisenhütte Łabedy in Gliwice. Dort entschied ich mich, wie viele andere Schüler, für gutes Geld zu jobben. Unsere Aufgabe bestand darin, die Hochöfen abzubauen. Sie wurden zunächst mit Sprengstoff in die Luft gejagt. Dann mussten wir sie von Schutt, Asche und all dem reinigen, was durch die Explosion nicht zerbröckelt wurde. Niemand sagte uns, dass dieser Job sehr gefährlich war. Uns wurde nur mitgeteilt, dass es dort sehr heiß war. Und tatsächlich war es so, weil unsere Schuhsohlen langsam schmolzen. Es wurde uns auch empfohlen, nach 20 Minuten Arbeit am Ofen immer eine Pause zu machen.

      Als ich die hohe Temperatur einmal schon nicht mehr ertragen konnte, sprang ich schon nach 10 Minuten aus dem abgebauten Ofen aus. Einen Augenblick später riss sich ein tonnenschweres Stück Schutt von der Ofendecke ab und rutschte gerade dort hinab, wo ich vor einer Weile arbeitete. Ich stand kurz wie angewurzelt. Ich spürte, dass der Tod zwei Sekunden von mir entfernt gewesen war. Zum ersten Mal im Leben wurde mir klar, was für ein zerbrechliches und vergängliches Wesen ein Mensch war, und dass wir zu jedem Zeitpunkt unser Leben verlieren konnten – ohne einen wichtigen Grund, vielleicht einfach zum Spaß des Schicksals. Ich glaube, dass niemand den Vorfall bemerkte, weil die Halle riesig war, und es herrschte ein schrecklicher Lärm. Ich erzählte niemandem von diesem gefährlichen Ereignis. Ich war sehr zurückhaltend und vertraute meine Erfahrungen kaum jemandem an.

      Erst nach vielen Jahren, als ich schon ein Erwachsener mit einer gewissen Lebenserfahrung war, dachte ich über diese Ereignisse etwas genauer nach. Als ich siebzehn war, wurde ich zur „Todesarbeit“ angeworben, vielleicht nicht gerade, weil mich jemand tot sehen wollte. Ich wollte etwas verdienen, weil ich das Geld brauchte. Es gab natürlich keinen Arbeitszwang, aber wer weiß, wie unsere Vorgesetzten reagiert hätten, hätten wir solch ein „lukratives“ Angebot abgelehnt. Das Leben an sich ist ein großes Rätsel, und man weiß nie, was auf uns zukommt. Als ein junger, fügsamer und sich ohne Widerstreben einer höheren Macht unterordnender Mann wurde ich von einem üppigen Gehalt gelockt. Ich war der Überzeugung, dass man die Aufforderungen der Vorgesetzten nicht verweigern und das, was sie sagten, nicht in Frage stellen und ihnen stattdessen grenzenlos vertrauen sollte. Sie wussten bestimmt, was sie taten, und unsere Sicherheit musste ihnen wichtig sein. Ich war doch nur ein Schüler und kein Revolutionär. Daher zweifelte ich die Meinung der Vorgesetzten nie an, sondern führte all das gehorsam aus, was zu verrichten war. Ich konnte davon nicht abweichen, weil alle anderen, die mit mir arbeiteten, genauso handelten. Wenn jemand zu viele Fragen stellte, wurde er von den Vorgesetzten schief angeguckt.

      Ich hatte gar keine Ahnung davon, dass die meisten Todesfälle am Arbeitsplatz auf Fehler, Fahrlässigkeit und Ungenauigkeit von anderen Menschen zurückzuführen waren. Ich glaubte, dass die, die umkamen, einfach Pech hatten. Wäre ich in der erwähnten Situation beim Abbauen der Öfen ums Leben gekommen, glaube ich nicht, dass jemand das plötzlich bemerkt hätte. In der Eisenhütte herrschte ein riesiges Durcheinander. Ich weiß auch nicht, ob es eine Person gegeben hätte, die für diesen Unfall zur Rechenschaft gezogen worden wäre. Daher ist es empfehlenswert den eigenen Arbeitsplatz zunächst genau zu betrachten und ihn auf seine Sicherheit zu prüfen, ehe man die Arbeit überhaupt aufnimmt.

      Auszeichnung im Internat

      Eines Tages, als ich noch im Internat wohnte, forderte mich der Leiter am Anfang des Appells auf, aus der Reihe nach vorne zu treten und mich direkt vor ihm hinzustellen. Als ich seinen Befehl ausführte, überlegte ich, wieso ich nun bestraft werden sollte, wenn ich nichts angestellt hatte. Das war das erste Mal, dass ich im Laufe des Appells wie beim Militär aus der Reihe gerufen wurde. Die anderen schauten mich mit Mitleid an. Sie waren sich bewusst, was es bedeuten kann, wenn jemand nach vorne treten muss.

      Der Leiter hatte aber gar nicht vor, mich zu bestrafen. Zu meinem großen Erstaunen und netter Überraschung stellte er nachdrücklich fest, dass ich der intelligenteste Bewohner des Internats war. Die Kollegen spendeten mir lauten Beifall, und ich konnte erleichtert in die Reihe zurückkehren. Die Kameraden lächelten mich mit Anerkennung an. Auch der Leiter selbst schaute mich respektvoll an und sagte etwas darüber, warum er gerade mich auszeichnete, aber er erklärte das nicht genau. Vielleicht wollte er allen zu verstehen geben, dass ich sowohl schlau als auch geheimnisvoll war? Wir wurden keinen Intelligenztests unterzogen. Daher waren wir alle überrascht. Warum zeichnete mich der Leiter so spontan aus heiterem Himmel aus? Wie beeindruckte ich ihn so nachhaltig? Die Antwort dafür bekam ich nie,