Kapitel 7
Die morgendliche Stille am Wasser ist stets eine trügerische. Viel zu einschneidende Dinge geschehen hier Tag für Tag. Heimliche und offizielle Liebschaften, Trennungen und Versöhnungen, Spaziergänge Frischverliebter und emotionale Streitgespräche – kein Schauplatz ist geeigneter für die vielen Facetten des Lebens wie der Strand.
Dennoch genieße ich jedes Mal aufs Neue die Illusion, dass der Strand mir allein gehört, wenn es mich morgens herzieht.
Dass der Morgen langsam in den Vormittag übergeht, erkenne ich an den vereinzelten Joggern hier und da und an den Pärchen, die mir hin und wieder entgegenkommen.
Er hat sich am ersten Rettungsturm mit mir verabredet. Das war es zumindest, was mir sein Vater ausgerichtet hat.
Als ich näherkomme, sehe ich, dass er tatsächlich auf mich wartet, den Blick in die Ferne gerichtet, während er sich gegen einen der Pfähle lehnt.
Mit jedem Schritt, den ich auf ihn zukomme, spüre ich, wie sich die Gefühle in mir abwechseln: Das Bedauern um seinen schweren Verlust vor fünfzehn Jahren, die Enttäuschung darüber, dass er mir zugetraut hat, diese Informationen gegen seinen Willen zu verarbeiten – vor allem aber das leichte Kribbeln in der Magengegend, wenn ich an den Kuss vor meiner Wohnungstür denke.
Er sieht mich nicht sofort. Woran er wohl denkt, während er auf das Wasser schaut? Ob ich Platz in seinen Gedanken habe? Oder ist diese Sache zwischen uns noch viel zu zart, viel zu unwirklich, um überhaupt eine große Rolle zu spielen?
„Hallo“, begrüße ich ihn mit zurückhaltendem Lächeln, während ich wenige Meter neben ihm stehen bleibe.
Er zuckt leicht zusammen, doch schon im nächsten Moment breitet sich sichtbare Freude in seinem Gesicht aus.
„Sina.“ Er kommt einen Schritt auf mich zu, um dann doch kurz vor einer Umarmung innezuhalten. Auch für ihn muss die Situation zweifellos seltsam sein.
Stattdessen schiebt er die Hände beinahe verlegen in seine Hosentaschen. „Schön, dass du es rechtzeitig hergeschafft hast. Ich hoffe, es war keine allzu große Überraschung, meinen Vater an meiner Stelle anzutreffen. Aber ich dachte, es wäre eine gute Idee, wenn du auch mit ihm sprichst.“
„Es war“, ich denke kurz nach, „nett. Wobei nett vermutlich doch nicht das richtige Wort für das Thema ist, über das wir gesprochen haben.“
Alwin schaut zu Boden. Die Anspannung ist ihm deutlich anzusehen.
„Es tut mir leid, Sina“, sagt er, den Blick noch immer auf den Boden gerichtet. „Aber ich rede nicht so gern darüber. Deshalb dachte ich, es wäre besser, wenn ich das in seine Hände übergebe.“
„Es hat mir nichts ausgemacht, mit deinem Vater zu reden“, sage ich. „Er ist ein sehr charmanter Mann.“
Alwin schaut auf.
Ich seufze. „Viel schlimmer finde ich die Tatsache, dass du wirklich geglaubt hast, ich könnte von dieser Geschichte auf anderem Wege erfahren und es ohne dein Wissen in dem Artikel verwenden.“
„Sina, ich …“, er lässt die Arme sinken, „es tut mir leid. Ich wollte dich nicht verletzen. Aber die Wahrheit ist doch, dass wir uns kaum kennen. Und du machst doch schließlich auch nur deinen Job. Tut mir leid, das war dumm von mir.“
„Verstehe. Du kennst mich also nicht gut genug, um zu wissen, wie ich arbeite, aber gut genug, um spätabends an meiner Tür zu klingeln und mich zu küssen?“
Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen.
Auch Alwin muss bei meinen Worten lächeln.
Langsam kommt er näher, umschließt meine Wangen mit seinen Fingern und legt seine Stirn an meine.
„Ich habe die ganze Nacht an dich gedacht“, sagt er leise.
Irgendetwas in mir sträubt sich gegen seine Annäherung. Auch wenn sich alles in mir danach sehnt, hat er dennoch recht mit dem, was er erst vor wenigen Augenblicken gesagt hat: Wir kennen uns kaum. Das hier kann einfach nicht richtig sein. Aber warum fühlt es sich dann so verdammt richtig an?
„Ich habe auch an dich gedacht“, antworte ich. „Vor allem, weil ich sehr verwirrt bin.“
„Und ist das in diesem Fall etwas Gutes? Verwirrt zu sein?“
„Es fühlt sich zumindest gut an.“
Ihm in dieser Position derart nahe zu sein, erscheint mir noch inniger als unser Kuss vom Vorabend.
Was hat er nur an sich, das mich so unsicher werden lässt? Sollte ich es nicht eigentlich besser wissen?
„Es tut mir leid“, sage ich. „Das mit deiner Schwester, meine ich.“
Er lässt seine Hände sinken und tritt instinktiv einen kleinen Schritt zurück.
„Alles okay?“, frage ich.
„Ja. Ja natürlich. Es ist nur … nach all den Jahren … es weckt noch immer so viel in mir.“
„Dein Vater sagt, er hat dir nie die Schuld daran gegeben.“
Alwin malt mit der Spitze seines Schuhs zarte Linien in den Sand.
„Es hat nie eine Rolle gespielt, was meine Eltern gesagt haben“, sagt er, den Blick auf die Linien im Sand gesenkt. „Ich habe mir immer die Schuld gegeben. Und das wird sich auch nicht ändern. Ich war ihr großer Bruder. Und Brüder passen auf ihre kleinen Schwestern auf. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz, das ich gebrochen habe, weil es mir wichtiger war, ungestört mit einem Mädchen zu sein.“
„Ich kenne die Geschichte nur aus dem Mund deines Vaters, aber für mich klingt dein Verhalten absolut logisch: Du warst ein junger Mann, du hattest einfach andere Dinge im Kopf.“
„Sina“, sagt er etwas zu schnell, etwas zu laut.
„Ja?“, frage ich leicht irritiert.
„Können wir bitte nicht mehr darüber reden?“, entgegnet er, nun etwas leiser.
„Tut mir leid. Ich wollte dir nicht zu nahe treten.“
„Das hast du nicht. Ich habe ja extra dafür gesorgt, dass du davon erfährst. Aber ich selbst, weißt du, ich rede nicht so gern darüber.“
Die Wehmut in seinen Augen weicht einem Lächeln, das er abruft, als sei es eine Art Heilmittel für zu tiefe Wunden, die er vergessen möchte. Langsam kommt er wieder näher und greift nach meinen Händen.
„Mir würden ganz andere Dinge einfallen, über die wir reden könnten“, sagt er.
„Zum Beispiel?“ Meine Hände ruhen in seinen, als hätten sie schon immer dort gelegen.
„Ich würde gern mehr über dich erfahren“, sagt er. „Es gibt sicher unendlich viele spannende Dinge, die ich noch nicht von dir weiß.“
„Spannend? Hm. Was findest du denn spannend? Welche Schuhgröße ich habe?“
„Bevor ich irgendetwas von dir weiß, ist es praktisch unumgänglich, dass ich deine Lieblingseissorte erfahre.“
„Meine Lieblingseissorte?“ Ich lache ungläubig.
„Sicher. Stell dir nur vor, wir haben Streit und ich will mich mit dir versöhnen. Jeder weiß doch, dass man dann mit einer Riesenpackung Lieblingseis nach Hause kommen muss. Das Lieblingseis öffnet Türen, wo jeder Blumenstrauß scheitern würde.“
„Klingt fast so, als hättest du in deinem Leben schon oft Versöhnungseis besorgt.“
Sein Finger streichelt über meine Hand. „Einmal bisher. Und an ihrer Reaktion habe ich gemerkt, dass sie nicht die Richtige für mich ist.“
Seine Antwort bringt mich zum Lachen.
„Ganz ehrlich, Alwin. Wir haben uns gerade erst kennengelernt. Zu diesem Zeitpunkt sollte