Wenn wir gehen, tun wir dies in einer bestimmten Gangart, die je nach unserer emotionalen Stimmung variieren kann. Intuitiv naheliegend ist die Auffassung, dass unsere emotionale Stimmung unsere Gangart beeinflusst. Wenn wir fröhlich sind und uns fröhlich fühlen, gehen wir mit einer aufrechteren Körperhaltung und ‚beschwingter‘, als wenn wir traurig sind. Letzteres führt eher dazu, dass wir die Schultern hängen lassen, gebeugter gehen etc. Michalak, Rohde & Troje (2015) konnten in ihrer experimentellen Studie zeigen, dass auch die andere Einflussrichtung möglich ist: Die Gangart kann unsere emotionale Stimmung und damit einhergehend unsere sprachliche Erinnerungsleistung beeinflussen.
So funktionierte das Experiment: Die gesunden, erwachsenen Proband:innen mussten zunächst eine Liste, die Wörter mit positiver und negativer Bedeutung enthielt, auswendig lernen. Anschließend sollten sie auf einem Fließband gehen und wurden durch ein Feedback über technische Hilfsmittel dazu gebracht, zwei verschiedene Gangarten umzusetzen: Die eine Gangart entsprach einem ‚fröhlichen Gehenfröhliches Gehen‘, die andere einem ‚traurigen Gehentrauriges Gehen‘. Anschließend an die Phase des Gehens wurde erneut die zuvor auswendiggelernte Wörterliste abgefragt. Die Erinnerungsleistung der Proband:innen mit der fröhlichen Gangart unterschied sich systematisch von der Gruppe mit der traurigen Gangart. Während Erstere sich besser an die Wörter mit einer positiven Bedeutung erinnerten, erinnerten die ‚traurig Gehenden‘ mehr negative Wörter.
Unterschiedliche GangartenGangarten („fröhlich“, „traurig“)
Ähnlich wie die Gangart scheint auch Gestik Einfluss auf kognitive Prozesse nehmen zu können. Die folgenden Beispiele stammen von der Forschergruppe um Goldin-Meadow (siehe in der Zusammenfassung auch Zepter 2013: 273ff.). Sie zeigen nicht nur, dass Gestik eine Sprecherin bei einer kognitiven Herausforderung konstruktiv unterstützt; sondern auch, dass die Ausführung von Gesten unmittelbar die Gedankenführung beeinflussen kann.
Gestik und Denken, Gedankenführung
Zuerst zum Aspekt der Unterstützung (vgl. Goldin-Meadow et al. 2001): In einem Test lösten Kinder (von im Durchschnitt knapp zehn Jahren) und junge Erwachsene (im Hochschulalter) zunächst selbstständig altersgerechte Mathematikaufgaben. In einem zweiten Schritt sollten die Testpersonen eine Reihe von vorgelegten Testeinheiten memorieren – die Kinder Wörter, die Erwachsenen Zahlen. Anschließend wurden sie gebeten, mündlich zu erklären, mit welchen Teilschritten sie die Mathematikaufgaben gelöst hatten. Letzteres geschah unter zwei Bedingungen: Einmal (a) waren bei den mündlichen Erläuterungen spontane HandgestenHandgesten erlaubt, das andere Mal (b) mussten die Hände still gehalten werden.
Nach der Erklärungsperiode konnten nun generell sowohl die Kinder als auch die Erwachsenen signifikant mehr von den zuvor memorierten Testeinheiten eben dann erinnern, wenn sie bei der zwischengeschalteten Aufgabenerläuterung spontane Gesten hatten ausführen dürfen. In beiden Gruppen waren diese Resultate unabhängig von dem jeweiligen mathematischen Wissen der Testpersonen robust. Das heißt, der GestenvollzugGestenvollzug verbesserte die spätere Erinnerungsleistung unabhängig davon, wie leicht oder schwer die Testperson die Mathematikaufgabe ursprünglich hatte lösen können. Offenbar entlasten die Handgesten die Sprecherin/den Sprecher bei einer mündlichen Erklärungsaufgabe in Hinsicht auf die kognitiven Ressourcen, so dass im Anschluss mehr Ressourcen für die Erinnerungsaufgabe zur Verfügung stehen (vgl. Goldin-Meadow et al. 2001: 521).
Darüber hinaus konnten Broaders et al. (2007) nachweisen, dass die Ermutigung zur Ausführung von Handgesten bei Grundschulkindern die Wahrscheinlichkeit erhöht, zuvor ungelöste Mathematikaufgaben schlussendlich zu bewältigen. In der betreffenden Studie galt es, Mathematikaufgaben an der Tafel selbstständig zu lösen und dabei gleichzeitig die gewählte Strategie zu erläutern. Dabei zeigte sich, dass Kinder, die an den gestellten Aufgaben zuerst scheiterten, von einem zusätzlichen Gesteneinsatz durchschlagend profitierten. Offensichtlich setzte der Weg über die Gestik weitere Kreativität frei bzw. ermöglichte es, zuvor unzugängliches Wissen verfügbar zu machen und neue Problemlösungsstrategien anzuwenden.
Ein weiteres Beispiel von Beilock & Goldin-Meadow (2010) belegt, dass das Potenzial von Gesten so weit greift, dass ihre Ausführung unmittelbar den Aufbau kognitiver Repräsentationen beeinflussen kann. D. h., hier zeigte die experimentelle Untersuchung, dass nicht nur der Handlungsvollzug, sondern auch Gestik relevante Aktionsinformationen zu den kognitiven Repräsentationen, die Personen von einer betreffenden Handlungsaufgabe haben, hinzufügt. Mit anderen Worten, die Beschreibung einer Handlungsaufgabe qua Gestik verändert unser Denken über die Aufgabe. Ist die ergänzte Information kompatibel mit den für die Aufgabe erforderlichen Teilhandlungen, verbessern sich im Anschluss weitere Durchführungen der Aufgabe; ist sie es nicht, so tritt eine Verschlechterung ein.
So funktionierte die Studie: Die Teilnehmer:innen mussten in einem ersten Schritt das mathematische Geduldsspiel der ‚Türme von Hanoi’ lösen; ein Problem, bei dem es gilt, einen Turm aus nach oben hin kleiner werdenden Scheiben unter bestimmten beschränkenden Stapelbedingungen ab- und wieder aufzubauen.
|
|
Abb. 2.4:
Türme von Hanoi (plus Lösungsweg)
Anschließend sollte mittels Gestik der gefundene Lösungsweg beschrieben und abschließend das Turmspiel wiederholt werden.
In einem Teil der Fälle wurden nun die Türme für den Wiederholungsgang manipuliert. Die Gewichte der Scheiben wurden so verändert, dass die kleinste Scheibe schwer und nicht mehr gut mit einer Hand tragbar, die größte dafür leicht war usw. Das Spiel wurde also so verändert, dass die zuvor etablierten gestischen Informationen nicht mehr zu den erforderlichen Teilhandlungen der Aufgabe passten. Das Resultat: Die Ausführungsleistung verschlechterte sich signifikant.
Ein wesentlicher Punkt ist dabei: Die Ausführungsleistung litt bei entsprechend widersprüchlicher Manipulation auch bei Testpersonen, denen der Lösungsweg zuvor nur mittels Gestik demonstriert worden war; also bei Personen, die die ‚Türme von Hanoi’ noch nicht selbst gelöst hatten, jedoch durch die Ansicht einer gestischen Demonstration auf die Handlungsaufgabe vorbereitet bzw. kognitiv beeinflusst worden waren (vgl. Beilock & Goldin-Meadow 2010: 1609).
Dieser Abschnitt hat illustriert, wie eng Kognition und Körper generell verbunden sind und wie sie sich wechselseitig beeinflussen können. Das folgende Kapitel 2.2 zeigt auf, dass diese enge Verknüpfung auch unser Sprachvermögen und unseren Sprachgebrauch bzw. die sprachliche Begriffsverarbeitung betrifft.
2.2 Sprache und Körper: Embodied Cognition und SprachverarbeitungSprachverarbeitung
Wie kommen wir eigentlich zu unseren kognitiven Repräsentationenkognitive Repräsentationen von der Welt? Wie erwerben wir z. B. einen BegriffBegriff wie Flugzeug? Gemeint ist hier das Bedeutungskonzept von dem deutschen Wort Flugzeug, das im Englischen plane heißt und im Französischen avion. Wie entsteht auf kognitiver Ebene dieses BedeutungskonzeptBedeutungskonzept? Und wenn wir das Wort Flugzeug im Rahmen unseres Sprachgebrauchs benutzen – wenn wir das Wort z. B. hören oder lesen und das Bedeutungskonzept (= den Begriff) kognitiv erschließen bzw. reaktivieren –, was passiert dann auf der Ebene unserer kognitiven Sprachverarbeitung?
In traditionellen Kognitionstheorien ist man lange davon ausgegangen, dass die betreffenden SprachverarbeitungsprozesseSprachverarbeitungsprozesse komplett isoliert und als solche amodal ablaufen und im genannten Fall z. B. nichts (mehr) mit unseren zurückliegenden individuellen Wahrnehmungserfahrungen von Flugzeugen zu tun haben. Anders ausgedrückt: Man nahm an, dass die