Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua. Roger Schöntag. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Roger Schöntag
Издательство: Bookwire
Серия: Tübinger Beiträge zur Linguistik (TBL)
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823303480
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Gesamtmodells machen, vervollständigen sie zum einen das Erklärungsmuster, wieso Mündlichkeit anderen Regeln unterworfen ist als Schriftlichkeit, und können zum anderen gleichzeitig argumentieren, inwiefern jedwede Äußerung bestimmten Traditionen und Normen unterworfen ist.31

      Das Konzept der Diskurstradition geht prinzipiell auf Coseriu (1980) zurück, doch wurde es auch durch Arbeiten von Schlieben-Lange (1983) und anderen maßgeblich mitgeprägt, bis schließlich Koch (1988) den eigentlichen Begriff ‚Diskurstradition‘ einführte und näher bestimmte. Im Weiteren entstanden dann prägende Arbeiten von Koch (1997), Oesterreicher (1997) sowie Aschenberg/Wilhelm (2003), Wilhelm (2001) und Kabatek (2011) zu diesem wichtigen Konzept, welches auch in vorliegender Arbeit eine tragende Rolle einnehmen wird.

      Mit ‚Diskurstradition‘ wird ein wichtiger Aspekt des Coseriu’schen Diasystems charakterisiert, insofern eine historische Einzelsprache von bestimmten Traditionen des Sprechens bzw. Schreibens geprägt ist. Im Zuge seiner Textlinguistik exemplifiziert Coseriu, wie die Produktion von (schriftlichen) Äußerungen nicht nur der Norm einer Sprache unterliegt, sondern auch gewissen historisch gewachsenen Traditionen der Versprachlichung:

      Einen Text aufgrund der Kenntnis einer besonderen Texttradition („Sonett“, „Roman“) und aufgrund einer einmaligen Intuition als Gefüge von individuellen Redeakten produzieren. (Coseriu 1994:46)

      Im Hinblick auf die Frage nach der Angemessenheit einer Äußerung bzw. eines Diskurses nimmt Koch die Coseriu’sche Frage nach einer spezifischen Norm für einen Diskurs auf und beantwortet diese damit, daß hierbei gewisse Regeln wirksam werden, die zusätzlich zur allgemeinen Sprachnorm einer bestimmten Einzelsprache funktionieren.

      Doch orientiert sich die Angemessenheit nicht nur an den idiosynkratischen Parametern des je individuellen Diskurses, sondern auch an den Traditionen, in denen er steht. Dies sind einerseits natürlich die Sprachnormen, und andererseits aber – gewissermaßen querliegend dazu – bestimmte Diskurstraditionen, die offensichtlich als Diskursnormen intersubjektiv gültig sind und den jeweiligen Sinn eines Diskurses mitkonstruieren: Textsorten, Gattungen, Stile etc. (Koch 1988:341–342)

      Im Weiteren verweist Koch (1988:342) auf bestimmte Diskursregeln, die zwar auf Sprachregeln basieren, aber nicht unbedingt einzelsprachlich gebunden sind; sie sind konventionell und historisch gewachsen und damit konstitutiv für eine bestimmte Art des Diskurses.

      Zu ergänzen ist dazu noch, daß Diskurstraditionen mehr sind als Textsorten, literarische Gattungen oder Stile, denn Diskurstraditionen sind nicht nur auf die Schriftlichkeit beschränkt, im Gegenteil, das gesamte Spektrum menschlicher Äußerungen, im Sinne eines Textes (in weitester Auslegung) bzw. Diskurses ist durch bestimmte historisch gewachsene Traditionen strukturiert. Das schließlich von Wilhelm (2001) synthetisierte Verständnis von Diskurstradition ist zentral für das von Koch/Oesterreicher entworfene Gesamt-Modell, denn einzelsprachliche Phänomene sind prinzipiell immer auch im Kontext ihrer diskurstraditionellen Verankerung zu untersuchen, damit sie varietätenlinguistisch zu verorten sind.

      Jeder Text/Diskurs steht in einer bestimmten Diskurstradition, er befolgt die Regeln einer bestimmten Textgattung. So wie der Sprecher für seinen Äußerungsakt eine bestimmte Einzelsprache oder ein einzelsprachliches Register auswählt […], so muß er sich auch für eine bestimmte Diskurstradition […] entscheiden. So wie es keine sprachliche Äußerung ‚außerhalb‘ einer historischen Einzelsprache geben kann […], so kann es auch kein Sprechen ‚außerhalb‘ einer bereits etablierten Diskurstradition geben: Unser Sprechen bedient sich notwendig der Form des Grußes, der Gedichtsammlung, des Telephongesprächs, des Briefes usw. Jede Rede ist einzelsprachlich, und sie ist gattungshaft, diskurstraditionell geprägt (Wilhelm 2001:467).

      Im Rahmen ihrer theoretischen Überlegungen, die letztlich darauf abzielen, sprachliche Variation und Varietäten adäquat beschreiben zu können, insbesondere im Bereich der Mündlichkeit, versuchen nun Koch/Oesterreicher aus den bisher beschriebenen Grundpfeiler – d.h. Konzeption/Medium (Söll), Diasystem (Coseriu), Diskurstraditionen (Koch et al.), Nähe/Distanz (Koch/Oesterreicher) – eine Synthese, indem sie die Parameter ,Mündlichkeit/Schriftlichkeit‘ und Nähe/Distanz in das Coseriu’sche Diasystem integrieren und dabei eine vierte Dimension erschaffen (cf. Koch/Oesterreicher 2011:16).

      In ihrem System des Varietätenraums gibt es – ganz analog zu Coseriu – die Dimensionen diatopisch, diastratisch, diaphasisch, die als markiert apostrophiert werden und die Dimension der nicht-markierten Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit. Diese neue Ebene ,gesprochen/geschrieben‘ (im konzeptionellen Sinn) verfügt nun über die Pole ‚Nähe‘ vs. ‚Distanz‘ und ist in sich wiederum in zwei Ebenen gegliedert, wobei die erste innerhalb des Nähe-Distanz-Kontinuums auf den universalen Aspekt rekurriert und die zweite auf spezifisch einzelsprachliche Phänomene Bezug nimmt. Die Strukturierung der einzelnen Ebenen des Varietätenraums ergibt sich aus dem von Coseriu entlehnten Konzept der Varietätenkette,32 die in der Interpretation von Koch/Oesterreicher (2011:16) besagt, daß bestimmte sprachliche Phänomene im Zuge einer Veränderung ihrer Funktion innerhalb einer Sprache prinzipiell entlang der Dimensionen diatopisch → diastratisch → diaphasisch → unmarkierte Nähesprache/Distanzsprache aufrücken können, und zwar unidirektional allein in dieser Abfolge (und ggf. auf einer „Teilstrecke“ davon).33

      Das unbestreitbare Verdienst des in zahlreichen Publikationen immer wieder mit neuen Nuancen bedachten Modells von Koch/Oesterreicher liegt sicherlich darin, wichtige Aspekte und Bedingungen im komplexen Gefüge von mündlicher und schriftlicher Kommunikation sichtbar und faßbarer gemacht zu haben. Dazu gehört vor allem die konsequente Weiterentwicklung der Söll’schen Dichotomie von Medium vs. Konzeption und die Etablierung des Nähe-Distanz-Kontinuums mit den sie konstituierenden Parametern sowie die Entwicklung des Konzeptes der Diskurstraditionen. Obwohl prinzipiell zunächst zur Erfassung des aktuellen synchronen Varietätenraums einer Sprache konzipiert, eignet sich das Modell auch zur Erfassung von historischen Sprachsituationen.34 Dabei kommt neben den Diskurstraditionen auch den im Rahmen ihrer Theorie entwickelten Begrifflichkeiten zur Kennzeichnung der Transferprozesse eine wichtige Bedeutung zu. So wird strikt zwischen der medialen Verschriftung (phonisch → graphisch) bzw. Verlautlichung (graphisch → phonisch) und der konzeptionellen Verschriftlichung (gesprochen → geschrieben) bzw. Vermündlichung (geschrieben → gesprochen) unterschieden, wobei der konzeptionelle Bereich als Kontinuum zu verstehen ist (cf. Oesterreicher 1993:271–272; Koch/Oesterreicher 1993:587; 2001:587).35

      Das Koch/Oesterreicher-Modell mit all den hier geschilderten Facetten ist im weiteren einerseits auf große Akzeptanz gestoßen und wurde immer wieder rezipiert,36 andererseits gab es im Zuge dieser vertieften Auseinandersetzung mit dieser Theorie auch zahlreiche kritische Hinweise auf inhärente Probleme. Kabatek (2003:203–204), Schöntag (2014:512–519) und Krefeld (2015a:265–268) fassen einige der wichtigsten Kritikpunkte zusammen, wobei der Hauptaspekt die Streitfrage ist, ob es zwingend notwendig ist, den unmarkierten Nähe/Distanz-Bereich als eine vierte Dimension zu eröffnen.37 Wie bei Kabatek zurecht vermerkt, gerät dabei die Bedeutung des medialen Aspektes, z.B. bei der Herausbildung einer Distanzsprache in einer Schriftkultur, ins Hintertreffen und vor allem ist es ganz prinzipiell kontrovers, ob diese – diamesischen Unterschiede, wie es Mioni (1983:508–509) ohne die Differenzierung von Konzeption und Medium nennt – nicht Teil der Diaphasik sind.38 In der Kritik stehen auch die Überschneidung von Diaphasik und Diastatik, die Varietätenkette bzw. ihre Unidirektionalität sowie die Vermischung von universalen und einzelsprachlichen Kriterien.39

      Merkwürdig allein in der Graphik zum Varietätenraum erscheint m.E. aber auch, daß hier eine wohl eher nicht beabsichtigte Affinität von ‚Nähe‘ und ‚niedrig‘ suggeriert wird, denn im Zuge der Darstellung des Kontinuums innerhalb der einzelnen Ebenen (diatopisch stark/schwach, diastratisch niedrig/hoch, diaphasisch niedrig/hoch) wird explizit die linke Seite des gesamten Spektrums als ‚gesprochene Sprache‘ im weiteren Sinne gefaßt (cf. Koch/Oesterreicher 2011:17). Unzweifelhaft ist es jedoch möglich ein stilistisch als eher ‚hoch‘ einzuordnendes Gespräch/Rede noch dem Bereich der konzeptionellen Mündlichkeit und damit der Nähesprache zuzurechnen – man kann sich durchaus elaboriert ausdrücken (z.B. im Rahmen eines Seminars) und trotzdem sind Merkmale wie Hesitationen, Anakoluthe