Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua. Roger Schöntag. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Roger Schöntag
Издательство: Bookwire
Серия: Tübinger Beiträge zur Linguistik (TBL)
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823303480
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Konzepte Diasystem und Dachsprache – und hier sei auf eine wichtige Schnittstelle von varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Perspektive hingewiesen – in Zusammenhang bringt und auf konkrete Sprachkonstellationen appliziert.72 Im Weiteren sind es u.a. Wissenschaftler wie Kramer (z.B. 1980, 1984) und Muljačić (z.B. 1984, 1989), die die Dachmetaphorik in ihrer ganzen Breite verwenden und das Kloss’sche System auf vielfältige Szenarien anzuwenden versuchen.73

      Es gibt aber sicherlich Fälle, wo die Konzeption des ‚Daches‘ an ihre Grenzen stößt, sei es aufgrund des nicht geklärten Status der einzelnen Idiome (z.B. Aromunisch im Verhältnis zu Dakorumänisch, Gaskognisch) oder unklarer sprachsoziologischer Zuordnungen (z.B. Subvarietäten des Ladinischen).

      Ein anderer Bereich, der mit den von Kloss angesprochen Sprachkonstellationen in Zusammenhang steht und der auch für die in dieser Arbeit einzunehmende Perspektive auf eine komplexe historische Situation – sowohl in Bezug auf die Antike, als auch die Renaissance – grundlegende Bedeutung hat, ist der der Mehrsprachigkeit. Prinzipiell ist es üblich zumindest zwischen individueller Zwei- oder Mehrsprachigkeit (Bilingualität, Multilingualität) und sozialer Zwei- oder Mehrsprachigkeit (Bilingualismus, Polylingualismus) zu unterscheiden.74

      In einer differenzierteren Sichtweise unterscheidet Lüdi (1996:234) vier Arten der Mehrsprachigkeit, und zwar 1) individuelle, 2) territoriale, 3) soziale und 4) institutionelle. Unter territorialer Mehrsprachigkeit versteht er dabei das Nebeneinander verschiedener Sprachen in einem bestimmten Gebiet und führt als Beispiel die Koexistenz von Niederländisch und Französisch in Brüssel an. Die soziale Mehrsprachigkeit liegt dann vor, wenn mehrere Sprachen mit unterschiedlichen Funktionen in einer Gesellschaft in Gebrauch sind, also eine di- oder polyglossische Situation vorliegt, und institutionelle Mehrsprachigkeit findet sich in nationalen oder internationalen Verwaltungseinheiten wieder, wie beispielsweise der Europäischen Union.

      Eine entscheidende Frage, unabhängig von der Anzahl der Arten von Mehrsprachigkeit ist, welche Kriterien dieser zugrundeliegen, d.h. ab wann ist ein Individuum oder eine Gesellschaft mehrsprachig und wie ist die Sprachkompetenz in den jeweiligen Sprachen? Lüdi plädiert dabei für eine weite Auslegung des Begriffes, der sich hier anzuschließen ist, da dies der Realität zahlreicher Gesellschaften am ehesten entspricht.

      Gegenüber diesen ‚engen‘ Mehrsprachigkeitsdefinitionen,75 welche sich am idealen bilingualen Sprecher/Hörer als an einem theoretischen Konstrukt orientieren, hat sich heute in der Regel eine ‚weite‘ Definition durchgesetzt. Danach ist mehrsprachig, wer sich irgendwann in seinem Leben im Alltag regelmäßig zweier oder mehrerer Sprachvarietäten bedient und auch von der einen in die anderen wechseln kann, wenn dies die Umstände erforderlich machen, aber unabhängig von der Symmetrie der Sprachkompetenz, von den Erwerbsmodalitäten und von der Distanz zwischen den beteiligten Sprachen […]. (Lüdi 1996:234)

      Ausgehend von der Tatsache, daß sowohl für die zeitgenössischen Gesellschaften, als auch – und dies wird nicht selten idealisiert – für die historischen Gesellschaften, eine wie auch immer geartete Mehrsprachigkeit (unter Einschluß der Varietäten) den Normalfall darstellt,76 erweist sich diese hier weitgefaßte Auslegung des Begriffes gerade auch für vorliegende Untersuchung als brauchbar und sinnvoll.

      Eine spezifische Betrachtung innerhalb der Mehrsprachigkeitsforschung verdient der Begriff der ‚Diglossie‘, der allgemein als eine funktionale Zweisprachigkeit verstanden wird und schon 1885 erstmals von zwei Gräzisten (Emmanuil Roidis, Jean Psichari) verwendet wurde (cf. Kremnitz 1996:246), aber dann erst 1928 Eingang in eine Publikation von Jean (Iannis) Psichari auf Französisch fand, die die Grundlage für seine weitere Verbreitung schuf.

      La diglossie – le fait pour la Grèce d’avoir deux langues – ne consiste pas seulement dans l’usage d’un double vocabulaire, qui veut qu’on appelle le pain de deux noms différents: artos, quand on est un homme instruit, psomi, quand on est peuple; la diglossie porte sur le système grammatical tout entier. Il y a deux façons de prononcer; en un mot, il y a deux langues, la langue parlée et la langue écrite, comme qui dirait l’arabe vulgaire et l’arabe littéral. (Psichari 1928:66)

      Psichari (1928:65) bezieht sich hierbei auf die beiden Varietäten des Griechischen, nämlich Katharevousa, die im 19. Jahrhundert geschaffene, an das altgriechische angelehnte Bildungssprache, und das Dimotiki, die Umgangssprache des Landes. Dabei erfaßt er zweifelsfrei, wie obiges Zitat deutlich macht, daß es sich um zwei unterschiedliche Varietäten handelt. Ohne daß er explizit von Funktionsteilung der Varietäten spricht, legt er aber durch seine Darstellung den Grundstein für die späteren Auffassungen von Diglossie, mit der Einschränkung, daß bei ihm noch eine wertende Konnotation mitschwingt.77

      Den Ausgangspunkt für die moderne Forschung bilden schließlich die Übernahme des Begriffs ‚Diglossie‘ durch Ferguson (1959) und seine weiteren Ausführungen, welche Sprachkonstellationen er darunter zu verstehen gedenkt. Er verwendet den Terminus zunächst mit Verweis auf den Kontext der Standardisierungsprozesse, wie sie bei Kloss geschildert sind, und bringt dann die Mehrsprachigkeit ins Spiel, indem er als Untersuchungsgegenstand folgendes angibt: „[…] standardization, where two varieties of a language exist side by side throughout the community, with each having a definite role to play“ (Ferguson 1959:325). Diesen Tatbestand der Funktionsdifferenzierung der beiden Varietäten bezeichnet er dann als ‚Diglossie‘.78 Neben der funktionalen Differenzierung der beiden Varietäten in einer Sprachgemeinschaft ist das unterschiedliche Prestige ein entscheidender Faktor. Ausgehend von diesem Kriterium bezeichnet er daher die angesehenere Varietät, die dann meist auch die besser ausgebaute und standardisierte ist,79 als high variety (H) und die weniger prestigereiche, die in der Regel hauptsächlich die Alltagskommunikation abdeckt, als low variety (L) bzw. insofern es sich um mehrere handelt als low varieties.

      For convenience of reference the superposed variety in diglossia will be called the H (‚high‘) variety or simply H, and the regional dialects will be called L (‚low‘) varieties or, collectively, simply L. (Ferguson 1959:327)

      Die Beispiele, die er dazu aufführt, sind zum einen die schon bei Psichari gegebenen, also Griechisch (Katharevousa vs. Dimotiki) und Arabisch (klassisches Arabisch vs. regionale, arabische Umgangssprache) sowie die Sprachsituation in der Schweiz mit Standarddeutsch und Schwyzerdeutsch und auf Haiti, wo neben dem français (standard) das créole haïtien gesprochen wird.80

      Für die Abgrenzung von einer „normalen“ Sprachgemeinschaft, die über einen ausgebauten Standard und dazugehörige Dialekte verfügt (standard-with-dialects) führt Ferguson (1959:338) drei Merkmale auf:

      1 Es gibt eine nennenswerte Anzahl von kulturell wichtigen Schlüsseltexten, wobei diese Literatur in einer Varietät verfaßt wurde, die der Varietät, die die meisten sprechen, nahesteht,

      2 Literalität ist in dieser Gesellschaft auf eine kleine Elite beschränkt,

      3 es ist eine gewisse Zeit vergangen (ein paar Jahrhunderte), bis die in 1) und 2) geschilderte Konstellation eingetreten ist.

      Die aus diesen Merkmalen erwachsende Diglossie-Situation kann durchaus stabil sein und muß auch nicht als „Problem“ empfunden werden, dennoch ist es möglich, daß unter bestimmten Voraussetzungen (cf. Ferguson 1959:338) eine Entwicklung in Richtung auf ein standard-with-dialects-Verhältnis in Gang kommt.

      Das von Ferguson (1959) mit den hier kurz skizzierten Grundprinzipien erarbeitete Konzept der ‚Diglossie‘ bildete das Referenzmodell für die weitere Forschung zu diesem Thema. Durch die Anwendung auf verschiedenen Sprach- und Varietätenkonstellationen ergaben sich dabei Adaptionen und Veränderungen, die dem ursprünglichen Gedanken nicht mehr ganz entsprachen. So appliziert beispielsweise Gumperz (1962, 1964, 1971) das Diglossie-Konzept auf den Gebrauch von Varietäten, die zwar unterschiedliche Funktionen innerhalb einer Sprachgemeinschaft haben, aber nicht mehr nur wie bei Ferguson rein diatopischer Natur sind und zudem bei den Sprechern nicht mehr als unterschiedliche Idiome wahrgenommen werden.81

      Die prominenteste Modifizierung des Diglossie-Modells ist zweifellos die von Fishman (1967), dessen wichtigste Neuerung darin besteht, daß er die Notwendigkeit