Die Frage nach der Historizität der Apostelgeschichte stellt sich in ähnlicher Weise wie bei den Evangelien. Der Leser und die Leserin, die an Wunder glauben, werden die Wundergeschichten in der Apostelgeschichte vermutlich als Historie verstehen – von der Himmelfahrt Jesu (Apg 1,9) über zahlreiche Heilungswunder (z.B. Apg 3,1–8; 5,15–16; 8,6–7; 9,17–18.32–43; 10,38; 14,7–10; 16,16–18; 19,11–12; 20,9–12; 28,3–19) bis hin zu den Befreiungen aus dem Gefängnis durch Engel (Apg 5,22–23; 12,6–11; 16,26–27). Andere werden die Geschichten als literarische Mittel zum Zweck wahrnehmen, theologische Botschaften wie „Christus befreit aus allen Fesseln“ oder „Christus heilt“ zu verkündigen. Wieder andere werden diese Passagen als zeitgebundene Legenden verstehen, die in der frühen Gemeinde der Christusgläubigen aufkamen und die wenig oder gar nichts mit gegenwärtigen Ereignissen zu tun haben.
Auch hier erweist sich ein Vergleich mit Josephus als hilfreich, der ebenfalls behauptet, Geschichte zu schreiben. In seinen Jüdischen Altertümern (zu denen, wie manche behaupten, auch Lukas Zugang hatte,) verleiht Josephus seiner Absicht Ausdruck, die Geschichte des jüdischen Volkes nachzuerzählen. Wenn man jedoch Josephus mit seinen Quellen vergleicht, dann sieht man, dass er durchweg Details abändert, Material hinzufügt und das überlieferte Material kürzt oder anderweitig abändert, damit es seinen eigenen apologetischen Zwecken dient. Lukas tut wahrscheinlich das Gleiche: Sowohl die Evangelien als auch die Apostelgeschichte beruhen zwar auf historischen Zeugnissen, aber der Autor erzählt die Geschichte – wie jeder andere gute Autor in der Antike auch – auf die Art und Weise, dass er damit seine Zwecke am besten verfolgen kann. Gerade die Reden der Apostelgeschichte, wie die Reden in vielen anderen antiken „Geschichten“ – sind Kompositionen des Lukas, ebenso wie die berühmte aufrüttelnde Rede des Elasar ben Jair auf Masada vor dem Angriff der Römer (Bell. 7,339–388) von Josephus verfasst wurde. Bereits Thukydides selbst erkannte die Notwendigkeit an, solche Reden selbst auszugestalten, insofern sie dem angemessen waren, was hätte gesagt werden müssen (hist. 1,22,1).
In welchem Umfang die Evangelien und die Apostelgeschichte wiedergeben, „was wirklich geschah“, wird auch weiterhin umstritten bleiben – genauso, wie die Traditionen, die in den Schriften Israels aufgezeichnet worden sind, wie z.B. die Schöpfungsgeschichte und die Geschichte vom Garten Eden (Gen 1–3), der Exodus oder die Wunder, die Daniel und seinen jüdischen Freunden in Babylon widerfuhren, zumindest diskussionswürdig sind. Aber alle diese Materialien – gleich, ob sie im Tanach oder im Neuen Testament zu finden sind – sind eben mehr als einfache Annalen oder Ansammlungen von Details. Sie sind dazu gedacht, die Leserinnen und Leser zu inspirieren und in ihrem Glauben zu festigen; sie bieten programmatische Beispiele dafür, wie man handeln sollte; sie unterhalten und informieren zugleich.
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Einleitung
Titel und Urheberschaft
Dem im 4. Jahrhundert u.Z. schreibenden Kirchenhistoriker Euseb zufolge berichtet ein Bischof namens Papias (ca. 125 u.Z.), dass der Jünger Matthäus (Mt 9,9; vgl. Mk 3,18; Lk 6,15; Apg 1,13) Worte Jesu in hebräischer Sprache aufgezeichnet habe. Der Text des Matthäusevangeliums selbst jedoch beansprucht nirgends, von Matthäus geschrieben worden zu sein, und liest sich auch nicht wie eine Übersetzung aus dem Hebräischen. Das Evangelium scheint vielmehr ein auf Griechisch abgefasster Text zu sein, in dem eine profunde Kenntnis der jüdischen Schriften und Tradition und des jüdischen Glaubens zum Ausdruck kommt.
Während eine Minderheitenmeinung innerhalb der modernen Forschung meint, dass das Matthäusevangelium sowohl Markus und Lukas als auch möglicherweise Johannes zugrundegelegen habe, stimmen die meisten Fachleute darin überein, dass Matthäus sowohl vom Markusevangelium (90% des markinischen Materials ist auch bei Matthäus zu finden) als auch von einem hypothetischen Text namens Q (für deutsch: Quelle) abhängig sei. Der gängigen Annahme nach bestand dieses Dokument oder diese Quelle nicht aus Erzähl-, sondern vorwiegend aus Lehrüberlieferung wie den Seligpreisungen (Mt 5,3–12; vgl. Lk. 6,20–23) und dem Vaterunser (Mt 6,9–13; vgl. Lk 11,2–4). Sie wird „Logien-“ oder „Spruchquelle“ genannt und kann aus den Versen rekonstruiert werden, die Matthäus und Lukas gemeinsam haben, die aber bei Markus fehlen.
Entstehungszeit und Hintergrund
Das Matthäusevangelium setzt voraus, dass der Jerusalemer Tempel zerstört ist (s. Mt 12,6; 22,7), und ist daher in die