Die Maturitätspflicht erreicht sozial Benachteiligte.
Bisher hat die Berufsmaturität die besonders starken Berufslernenden ins Auge gefasst. Neben der Berufsmaturität – so die verbreitete Meinung – sollten auch Lernende mit einer einfachen Lehre ihren Platz finden. Die Auffächerung des Systems sollte dabei den unterschiedlichen schulischen Voraussetzungen gerecht werden. Es gibt ganze Berufsfelder, in denen sich die Berufsmaturität bisher kaum etabliert hat. Man argumentiert gern mit Tätigkeitsfeldern für Menschen, die ihre Stärken nicht im Schulischen, sondern im Praktischen haben. Auch für diese Jugendlichen, so die Argumentation, müsse das Schweizer Bildungssystem etwas im Angebot führen. Man spricht dann gerne von Individualisierung und davon, dass nicht alle Jugendlichen über einen Kamm geschoren werden sollen. Unter individueller Förderung versteht man zum Beispiel, dass schulmüde oder handwerklich interessierte Jugendliche eine Art Menschenrecht auf weniger schulische Bildung hätten, weil diese nicht zu ihrer Persönlichkeit passe. Der Schule wirft man im Gegenzug vor, die individuellen Neigungen nicht genügend zu respektieren. Das gipfelt mitunter im Appell, die Kinder, verstanden als Wild, vor der Schule, verstanden als Treibjagd, zu schützen.[43]
Weshalb nun dieser Vorschlag einer flächendeckenden Einführung? Warum sollen alle eine Berufsmaturität machen, auch die schulisch Schwachen? Zunächst gilt es anzuerkennen: Es ist wichtig, dass die Jugendlichen gewichtige und etablierte Stimmen haben, die sich für sie und ihr Wohlergehen einsetzen. Die Jugend muss ein Schonraum bleiben – gerade in einer Leistungsgesellschaft, die zunehmend Druck ausübt. Trotzdem gilt es wiederum, die Dialektik von Bildung und Gesellschaft im Auge zu behalten. Schule ist nicht nur eine Treibjagd, sie ist auch eine Befreiung und Ermächtigung der Jugendlichen. Die Schulpflicht ist beides: Zwang und Befreiung. In ihrer Entstehungszeit hat sich die Schule vehement gegen Kinderarbeit eingesetzt. Noch heute wehrt sie sich gegen Versuche von Firmen, immer früher geeignete Jugendliche für sich herauszupflücken.[44]
Die Individualisierung steht nicht erst seit den Bildungsreformen der Sechzigerjahre hoch im Kurs. Die Entfaltung der individuellen Persönlichkeit gehört seit der Aufklärung ins Zentrum jeder Bildung: Dass Lernende aus Gründen der Praktikabilität und aus preussischer Militärtradition zu Klassen zusammengefasst werden, hat man immer wieder als Makel empfunden, als Widerspruch zum Ideal der Individualisierung.[45] Allenfalls hat man den Klassenunterricht mit Funktionen wie der Förderung der Sozialkompetenz oder Integration legitimiert. Heute gibt die Digitalisierung der Idee der Individualisierung neuen Schub. Personalisierte Lernumgebungen machen es möglich, im jeweils eigenen Tempo zu lernen und Aufgaben verschiedener Schwierigkeitsstufen zu lösen – kurz: weniger im Klassenverband, dafür individueller zu arbeiten. Das sind interessante, aber nicht nur gute Entwicklungen. Teilweise unterlaufen sie die Idee der Schule selbst. Schulische Leistung hängt unter anderem von der sozialen Herkunft ab, das ist bekannt. Von der Schule jedoch erwartet man, dass sie niemanden diskriminiert – schon gar nicht aufgrund der sozialen Herkunft. Wie geht das zusammen? Traditionelle Pauker lösen das so: Sie scheren sich nicht um die jeweiligen Interessen und Desinteressen der Kinder. Das ist nicht einfach Ignoranz, das hat System: Interessen ergeben sich zumindest teilweise aus der Kultur des jeweiligen Milieus. Das Narrativ von individuellen Interessen und Begabungen bringt durch die Hintertür die alten Klassenunterschiede in das Schulzimmer zurück. Wenn Jugendliche in ihrem Vorurteil bestärkt werden, dass Schule für sie nichts sei, weil sie sowieso bald eine Lehre mit wenig intellektuellen Ansprüchen machen würden, dann stellt man diese Jugendlichen aufs Abstellgleis. Und das im Namen von Individualisierung. Die Aufgabe der Schule besteht darin, alle mitzunehmen, auch jene, die nicht wollen. Und zwar im Interesse der Jugendlichen. Deshalb braucht es die Maturitätspflicht, damit auch die schulisch Schwachen abgeholt werden.
Die Argumentation ist im Grunde dieselbe wie jene gegen Kinderarbeit. Die wenigen Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien, die heute den Schritt zur Berufsmaturität machen, tun das oft aus eigenem Antrieb – gegen die Kultur ihres Milieus, gegen das Verhalten ihrer Peers, trotz der Skepsis oder Gleichgültigkeit ihrer Eltern, gegen die Ablehnung in vielen Betrieben, unter enormem Erfolgsdruck beziehungsweise der Gefahr, bei ungenügenden Leistungen wieder aufhören zu müssen, trotz strenger Eintrittshürden und Aufnahmeprüfungen und unter Inkaufnahme von einem Jahr Einkommensverlust bei der BM2. Das muss man sich mal vorstellen. Das ist ein riesiger, fast unmenschlicher Schritt. Kein Wunder, tun ihn nur wenige bildungsferne Jugendliche, sondern vor allem die Kinder von Akademiker*inneneltern, die es nicht ans Gymnasium schaffen und deren Eltern finden: Na gut, dann immerhin die Berufsmaturität. Dass diese Bildungsform auch den Namen Maturität trägt, kommt diesen Eltern gelegen, ihr Kind macht dann immerhin eine Maturität – auch wenn es keine gymnasiale ist. Kurz: Kinder aus bildungsfernen Milieus machen weniger oft die Berufsmaturität. Die Berufsmaturität zur Pflicht zu machen, bedeutet, diesen Jugendlichen eine echte Chance zu geben.
Fast jeder kommt irgendwo unter. Doch es ist klar, die Anforderungen steigen. Den Jugendlichen vorzugaukeln, sie müssten sich darum nicht kümmern, ist nicht ehrlich. Es gibt einen Strukturwandel – mit ihm müssen sich die Jugendlichen auseinandersetzen. Zu jeder Zeit mussten Jugendliche damit umgehen, dass es ihre Träume gibt – und daneben Jobs. Dass diese in einigen Fällen besser zusammenpassen als in anderen, hat die Dimension einer universellen Ungerechtigkeit, die kein Bildungssystem der Welt beheben wird. Die häufig gehörten Wendungen, es müssten nicht alle studieren,[46] es gebe auch handwerklich interessierte Jugendliche, sind Binsenwahrheiten. Sie treffen grundsätzlich immer zu, bei einer Maturitätsquote von 5, 20 oder 50 Prozent. Hier haben sich Diskurse verselbstständigt und den Draht zur Realität verloren. Ideologien stehen pragmatischen Lösungen im Weg. Sich als Beschützer*in der schulisch Schwachen zu inszenieren, hat bestimmt etwas Schmeichelhaftes. Echtes Empowerment sieht aber anders aus.
Mit einer Berufsmaturität werden mehr Lehrabgänger*innen ein Studium an einer Fachhochschule in Angriff nehmen. Und wenn sie sich gegen ein solches entscheiden, sind sie durch die erweiterte Grundbildung doch besser gerüstet für eine Arbeitswelt, die hohe Ansprüche stellt – auch an sie. Damit wirkt die Berufsmaturität prophylaktisch gegen Überforderung und Arbeitslosigkeit im fortgeschrittenen Alter. Es ist nicht nötig, dass alle Berufsgruppen das gleiche schulische Niveau erreichen. Schon heute gibt es grosse branchenspezifische Unterschiede. Die Unterteilung zwischen einem Niveau A und B, wie sie oben skizziert wurde, kann hier hilfreich sein. Mit dieser Unterscheidung wird es auch für schulisch Schwächere möglich, den Anschluss zu behalten und am lebenslangen Lernen teilzuhaben. Die Ansprüche steigen überall, auch in Berufen mit scheinbar tieferen Anforderungen. Es gilt über alle Branchen hinweg: Berufslehren sind ein erster Schritt hin zu weiterer Bildung. Eingängige Slogans seitens der Berufslehre bringen es auf den Punkt: «Lerne Goldschmiedin – werde Polizistin.»[47]
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