Humboldt verwahrt sich gegen eine Vereinnahmung der Bildung für Nützlichkeitsdenken aller Art. Dabei hat er vor allem die Grundbildung und die gymnasiale Bildung im Blick. Es verwundert nicht, dass wir heute, in der Zeit der Industrialisierung 4.0, mit den gleichen Spannungsfeldern konfrontiert sind. Der Ruf nach Nützlichkeit von Bildung ist nicht neu. Doch es gibt heute so wenig Grund wie damals, vom Ideal einer Bildung abzuweichen, die sich am Menschen orientiert – nicht an seiner Verwertbarkeit. Zweckfreie und unabhängige Bildung muss – das ist Teil des Projekts Aufklärung – von jeder Generation aufs Neue gegen vulgär-utilitaristische Vorstellungen verteidigt werden. Zum Wesen der Bildung gehört ebendies: dass sie sich und ihre Grundlagen gleichsam selbst vermittelt, dass sie den Lernenden ihren Wert bewusst macht; den kulturgeschichtlichen Rahmen der Aufklärung. Dass Bildung mehr und etwas anderes ist als Ausbildung, versteht sich nicht von selbst. Man kann und muss es lernen.
Dies ist aber nur die eine Seite des dialektischen Verhältnisses von Bildung und Wirtschaft. Die andere Seite ist ebenso wichtig: Bildung ist nicht nur ein Kind der Aufklärung, sondern auch der Industrialisierung. Sie verdankt ihre Existenz zu ganz wesentlichen Teilen ebenjener Wirtschaft, von der sie sich immer wieder abgrenzt. Der Motor der modernen Schule ist der technische und wirtschaftliche Fortschritt. Das gehört auch zum Gesamtbild der Bildung. Vielleicht muss, wenn allzu romantische Reden angestimmt werden von der Zweckfreiheit der Bildung, diese Seite in Erinnerung gerufen werden.
Industrialisierung und Bildung gehen eine komplizierte Allianz ein. Es ist nicht verwunderlich, dass sich der Konflikt immer wieder an der Frage der Nützlichkeit entzündet. Die Doppelnatur moderner Bildung zeigt sich schon im Begriff der Schule. Bei den antiken Griechen hiess Schule Musse. Sie war jener Bevölkerungsschicht vorbehalten, die es sich leisten konnte, eben nicht arbeiten zu müssen. Diese Auffassung von Bildung steht einem funktionalistischen Bildungsverständnis diametral gegenüber. In unserem heutigen Bildungsbegriff konkurrenzieren sich die beiden gegensätzlichen Auffassungen. Auf begrifflicher Ebene versucht man das, zumindest auf Deutsch, im Gegensatzpaar von Bildung versus Ausbildung zu fassen. In Ländern mit zwei Bildungswegen steckt immer noch viel von jenem Gegensatz in diesen Wegen – nicht nur als Selbstinszenierung der Akademiker*innen, sondern auch im Selbstverständnis handwerklicher Bildung. Im Grunde aber verläuft die Grenze zwischen nützlicher und angeblich unnützer Bildung nicht entlang der verschiedenen Bildungswege. Auch innerhalb der jeweiligen Bildungswege gibt es diese Diskussionen. Ein Beispiel dafür ist das gymnasiale Bildungsziel der persönlichen Reife. Gemeint ist jene persönliche Reife, präzisiert der entsprechende Artikel,[35] die auf anspruchsvolle Aufgaben in der Gesellschaft vorbereitet. Das Gymnasium dient nicht einfach der zweckfreien Entfaltung des Individuums – wie schön die auch sein mag –, sondern bleibt als Bildungsinstitution der Gesellschaft verpflichtet: Die persönliche Reife soll auch dieser nützen. Auf der anderen Seite hat sich berufliche Grundbildung nie im blossen Anwenden erschöpft. Mit zunehmenden Ansprüchen nimmt die Bedeutung des Abstrahierens und Transferierens zu. Ein Indiz dafür ist die zunehmende Organisation der Berufslehre in Modulen.[36] Was in einem Modul gelernt wird, kann auf verschiedene andere Bereiche, teils auch auf andere Berufe übertragen werden.
Nützlichkeitsdenken geht nicht den Bildungswegen entlang.
Unterschiedliche Fachbereiche gelten als mehr oder weniger nützlich. Die MINT-Förderung ist seit Jahrzehnten ein grosses Thema an den Schulen, auch an den Gymnasien. MINT, das sind Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Diese Fächer sollen einen höheren Stellenwert bekommen und mehr Mädchen sollen sich für diese Männerdomänen interessieren. Dies versteht man als Antwort auf den gegenwärtigen technologischen Wandel. Allerdings ist die MINT-Förderung vor allem Ausdruck der frühen Phase der Digitalisierung ab den Siebziger- und Achtzigerjahren: Sie fokussiert auf den Einsatz von Taschenrechnern, auf Programmieren und Simulationen im Physikunterricht. Die aktuelle Phase der Digitalisierung betrifft die ganze Gesellschaft, auch die geisteswissenschaftlichen Fächer. Die wachsende Bedeutung der Digital Humanities ist ein Zeichen dafür.[37] Das Internet und der Umgang mit Informationen, Social Media, die Virtualisierung des Soziallebens – das sind herausfordernde Prozesse der Gegenwart. Geisteswissenschaftliche Fächer bieten kulturelle Orientierung. Ganzheitliches Denken, das Erkennen von Zusammenhängen – das leistet ein Fachgebiet nicht allein.
Es gilt, den Graben zu überwinden, der zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften verläuft. Zuweilen ist sogar die Rede von zwei unterschiedlichen Kulturen.[38] Zu Recht ist aber darauf hingewiesen worden, dass der eigentliche Graben nicht zwischen den Fachbereichen verläuft, sondern entlang der Grenze zwischen Nützlichem und angeblich Unnützem.[39] Als Richtschnur gilt dabei die Verwertbarkeit der Lerninhalte – für den Job, fürs Studium, für den Alltag. Nicht verschiedene Fachbereiche stehen sich gegenüber, sondern die Grenze verläuft innerhalb der Fächer selbst. Ein Beispiel aus der Mathematik: Wozu die ganze höhere Mathematik, wenn doch einfaches Addieren ausreicht fürs Shopping? Lernenden seien solche Fragen erlaubt. Erwachsene sollten einen Schritt weiter sein. Ähnliche Fragen gibt es in jedem Fach, etwa in Deutsch: Wozu Gedichte lesen? Die Geschäftskorrespondenz ist poetisch genug.
Es geht hier nicht darum, das Nützlichkeitsdenken per se geisseln zu wollen, denn dieses hat durchaus seine Berechtigung. Es geht vielmehr darum, den weiter gefassten Wert des vermeintlich Unnützen in Erinnerung zu rufen.[40] Bildung ist mehr als ein Mittel zum Zweck. Daran soll gerade in einem Band, der häufig mit ökonomischen Notwendigkeiten argumentiert, erinnert werden. Es gibt noch andere Dimensionen des Lernens – jenseits von Arbeitsmarkt und Digitalisierung. Jede Fachkraft ist zuerst ein Mensch. Und erst als solcher gut im Job. Darin kann man eine utilitaristische Pointe sehen. Erst der menschliche Faktor, könnte man in ökonomischem Vokabular argumentieren, macht den Unterschied. Wenn schon mit dem Nutzen von Bildung argumentiert werden soll, dann richtig. Man sollte die sogenannte Wirtschaft – oder was man darunter versteht – nicht unterschätzen. Wirtschaftsbossen ein plumpes utilitaristisches Bildungskonzept zu unterstellen, ist klischiert. Das Bildungsverständnis der Wirtschaft reicht weit über das Utilitaristische hinaus. Kritische Stimmen werden einwenden, selbst Kreativität oder Innovation blieben, zu Kompetenzen verzerrt, bloss ein Mittel zum Zweck. Für Arbeitgeberinnen bleibe der gebildete Mensch letztlich Humankapital und seine Bildung bloss Rohstoff.
Es geht hier nicht darum, dieses Spannungsfeld aufzulösen. Es geht darum, die Dialektik aufzuzeigen, die darin liegt. Bildung ist beides: Sie ist ein zweckfreier Reichtum und gleichzeitig kann sie nutzbar gemacht werden; ökonomisch, gesellschaftlich, kulturell. Man muss Bildung nicht in Opposition zum Arbeitsmarkt stellen, ganz im Gegenteil: Die Arbeitswelt 4.0 will vom Menschen, was Maschinen nicht können. Das genuin Menschliche ist gefragt. Was es braucht, sind Menschen als kulturelle Wesen in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit. Innovationen brauchen Fantasie und Vorstellungskraft, Emotionalität, Spielfreude, einen geistigen Horizont. Zugegeben, dieser Gegensatz von Mensch und Maschine konstruiert ein etwas einseitig romantisches Menschenbild. Doch im Gegensatz zur Entfremdung, die den Menschen im 19. Jahrhundert zur Maschine machte, bietet die Arbeit 4.0 neue Chancen, sich in der Arbeit als Mensch zu erfahren. Die heutige Wirtschaft braucht gebildete, kritische Menschen, die mehr sind als Arbeitskräfte. Nicht nur die Wirtschaft braucht sie, erst recht die Gesellschaft, Politik und Kultur.
Es gehört zur Jugendkultur, das Lernen auf seinen Nutzen hin kritisch zu überprüfen. Eine Bildungskultur kann man nicht einfach befehlen. Oder herbeireden. Doch man kann sie pflegen. Das ist die Aufgabe der Erwachsenen, der Schule, der Gesellschaft. Fächer haben unterschiedliche Images. Je näher sie an der Berufsbildung sind, desto höher stehen sie bei Jugendlichen im Kurs. Einen schwereren Stand hat mitunter der allgemeinbildende Unterricht ABU. Die Berufsmaturität baut den schulischen Anteil aus, damit macht sie sich nicht bei allen beliebt. Doch immerhin ist es nicht die – allenfalls verhasste – Schule, sondern die sehr viel coolere Berufsschule. Zudem setzt sie sowohl auf Berufsbildung als auch auf grundlegende Bildung. Die BM ist nicht einfach mehr ABU, sie geht darüber hinaus. ABU in der Berufslehre