Selbstüberschätzung statt Selbstreflexion?
Zu viele Unternehmer und Manager vertrauen den Luftschlössern ihrer eigenen Illusionen und hinterfragen diese selbst dann nicht konsequent genug, wenn am Markt schon deutlich sichtbar wird, dass neue Technologien längst den Siegeszug angetreten haben. So diagnostizierte Stephen Elop 2011 als Nokia-CEO zwar, dass sein Unternehmen im Smartphone-Markt weit ins Hintertreffen geraten war. Tatsächlich war der Marktanteil bei Neuverkäufen gegenüber der Spitzenzeit in 2007 um rund die Hälfte gesunken12. Doch leider kam der Chef über eine Brandrede kaum hinaus und ließ energisches Gegensteuern vermissen. Trotz zutreffender Analyse war das Handeln immer noch vom Vertrauen in die eigene Technologie und der Hoffnung auf evolutionäre Lösungsfähigkeiten bestimmt. Der Rest ist Geschichte.
Selbstüberschätzung verhindert Veränderung.
Offensichtlich spielt dabei eine zweite Denkfalle eine Rolle, die die Psychologie »overconfidence effect« oder Selbstüberschätzungseffekt nennt (Dobelli, Die Kunst des klaren Denkens, 2011). Dieser Effekt bedeutet kurz gesagt, dass wir unser Wissen und unsere Prognosefähigkeiten systematisch überbewerten. Spannenderweise überschätzen sich Experten stärker als Nicht-Experten und vertreten zudem ihre Sicht gerade aufgrund ihres Expertenstatus mit einem hohen Maß an Selbstbewusstsein, was einer immanenten fatalen Verstärkung gleichkommt. Da wegweisende Entscheidungen in Unternehmen zumeist von Menschen getroffen und vertreten werden, die sich als Experten dafür ansehen, muss die Häufung illusionsgetriebener Fehleinschätzungen also niemanden wundern. Abhilfe würde ein Mehr an Reflexion schaffen, sei es introspektiv als Selbstreflexion oder von außen mit kritischen Sparringspartnern. Illusionen kann niemand ernsthaft wollen. Sie führen in die Irre, zementieren das Gewohnte und Althergebrachte, verhindern notwendige Veränderungen.
1.3 Durchhalten bedeutet Stillstand
»Wenn du entdeckst, dass du ein totes Pferd reitest, steige ab«, lautet eine alte Weisheit der Dakota-Indianer. Alles klar, sollte man meinen, das gebietet schon der Tierschutz, erst recht aber die Vernunft. Hätte sich da nicht hartnäckig in unserem Kopf die Überzeugung festgesetzt, dass Durchhalten eine vornehme Tugend sei. Folglich mangelt es uns auch nicht an Ideen dafür, wie wir den Reiter weiter im Sattel halten: »Das Pferd wurde schon immer so geritten«, machen wir nur allzu gerne mit Inbrunst all denjenigen klar, die Zweifel daran hegen. Das Pferd mittels veränderter Kriterien für noch lebend zu erklären, ist eine andere gewiefte Strategie. Sehr beliebt ist auch der Versuch der Wiederbelebung mithilfe einer Taskforce oder mit der Verdoppelung der Futterration. Hilf, was helfen mag.
Die Gefahr, aussortiert zu werden
So amüsant der Blick aufs tote Pferd ist, so wenig wird daraus erfahrungsgemäß für das Handeln in der Praxis gelernt. Nokia entschied sich fürs Durchhalten und damit für das verendende Pferd, Quelle und Neckermann ebenso. Sowie auch viele Unternehmen der Touristikbranche, die weder auf den Trend zur Online-Buchung noch den zur Individualisierung aufspringen wollten. Als Beispiel sei der Reiseveranstalter Thomas Cook genannt, der partout an margenschwachen und kaum individualisierbaren Pauschalreisen sowie am Verkauf primär über Reisebüros festhielt13. Durchhalten und Aushalten stehen offensichtlich hoch im Kurs, das genaue Hinsehen und Bewerten von Chancen und Risiken sowie kritische Fragen dazu weniger. Was macht einen Unternehmer oder Vorstand sicher, dass sein Durchhalten zum Erfolg führt? Was genau macht sein Unternehmen anders im Vergleich zu den anderen Marktteilnehmern, das diese Sicherheit rechtfertigt? Gibt es darauf keine fundierte und nachvollziehbare Antwort, ist wahrscheinlich der Selbstüberschätzungseffekt am Werk, der eine wunderbare Rechtfertigung fürs Durchhalten ist. Die obigen Beispiele belegen es.
Dabei wird meist erst viel zu spät offenbar, dass Durchhalten Stillstand bedeutet und damit die exponentielle Zunahme der Gefahr, vom Markt aussortiert zu werden. Oft gibt es mahnende Stimmen bereits lange vor dem großen Knall, doch sie werden im Trubel des Tagesgeschäfts überhört oder von besonders überzeugten und lauten Verfechtern des Status quo mundtot gemacht. Sich mit einer kritischen Betrachtung und der zugehörigen Argumentation auseinanderzusetzen, ist unbeliebt. Nicht selten macht dabei gar das böse Wort vom »Nestbeschmutzer« die Runde. Selbst der eigenen Intuition entspringende Mahnungen werden bevorzugt mit Beruhigungs- und Weitermachphrasen eingelullt, ansonsten müssten wir uns ja eingestehen, dass wir auf dem Holzweg sind – die Selbstüberschätzung lässt erneut grüßen.
Mehr als drei Viertel aller Transformationsprogramme liefern entweder gar nicht oder nur zum Teil.
Investitions-Reue
Den Durchhalte-Effekt gibt es nicht nur bei Geschäftsmodellen und deren Lebenszyklus. Auch Transformationsprogramme sind häufig Opfer davon. Sind sie erst einmal mit großem Getöse und euphemistisch aufgeblasenen Erwartungen gestartet, kann uns nichts mehr davon abhalten, sie durchzuziehen. Dass statistisch mehr als drei Viertel davon entweder gar nicht oder nur zum Teil liefern3, scheint unserer Hoffnung auf Erfolg keinen Abbruch zu tun. Das ist einerseits günstig, da die Chancen fürs Gelingen mit dem eigenen Glauben daran steigen. Andererseits ist es hinderlich, da wir allzu leicht und unreflektiert der Überzeugung sind, dass unser Projekt zu dem gelingenden Viertel gehört. Diese Gutgläubigkeit hält sich unerschütterlich auch dann noch, wenn die Ziele wiederholt nach unten korrigiert oder in die Zukunft verschoben werden mussten, wenn Führungskräfte und Mitarbeiter mehrheitlich die Veränderungen durch Nichtstun aussitzen oder wenn offenbar wird, dass nicht einmal mehr der Auftraggeber an den Erfolg des Change glaubt. Letzteres zeigt sich besonders krass, wenn der Sponsor getreu dem Motto »Man erkläre mir, warum ich diese Veränderung wollen soll« die Frage nach dem unternehmerischen Nutzen und seiner eigenen Überzeugung an das Projektteam überträgt. Verkehrte Welt, werden Sie jetzt sagen. Genau so ist es jedoch in der Praxis gar nicht selten.
Treten diese Phänomene auf, stellt sich die zuvor aufgeworfene Frage in neuer Schärfe: Was rechtfertigt das weitere Durchhalten überhaupt noch? Bei Schweigen, Schulterzucken, fragenden Gesichtern oder unbefriedigenden Antworten kann es nur eine Reaktion geben: das sofortige Umsteuern oder Abbrechen. Doch dazu gehört Mut, der oft nicht vorhanden ist. Lieber wird weitergewurstelt und damit die Versagens-Statistik bestätigt. Das ist viel unauffälliger und folglich weniger gefährdend für die eigene Person und Position, auch wenn es sehenden Auges unternehmerischer Unsinn ist. Die »sunk cost fallacy«, also die Höherbewertung vergangener Kosten gegenüber zukünftigen Erfolgsaussichten, spielt dabei ebenfalls eine Rolle (Dobelli, Die Kunst des klaren Denkens, 2011). Wir tappen sehr leicht in diese Denkfalle, weil wir konsistent und glaubwürdig erscheinen wollen sowie zudem Reue gegenüber der bisherigen Investition empfinden, wenn wir diese abschreiben müssen. Doch eine vernünftige Entscheidungsbasis ist das nicht. Idealerweise dürfen vergangene Kosten keine Rolle spielen, sondern ausschließlich die Einschätzung der Zukunftsperspektive. Mit diesem Prinzip bliebe vielen Transformationsprogrammen manch nutzloses Durchhalten erspart, das Ressourcen frisst, ohne ein adäquates Ergebnis zu bringen.
Vorsicht bei Durchhalte-Parolen