Scheitern ist der alte und neue Hype beim Wandel.
Der erste Teil dieses Buchs beschreibt unter der Überschrift »Change-Burnout«, wie mit Veränderungen in Unternehmen umgegangen wird, warum trotz vielfacher Erfahrungen und am laufenden Band publizierter neuer Erkenntnisse immer noch ein Großteil davon misslingt und was die Hintergründe dessen sind. Entscheidenden Aufschluss gibt der Blick hinter die Kulissen bei Menschen, wofür die Erkenntnisse der Psychologie und der Neurobiologie sehr nützlich sind. Immer wenn es um Change geht, geht es zuerst darum, wie der einzelne Mensch für sich und als Teil einer Organisation reagiert. Schlussendlich braucht es Verhaltensänderungen, sonst bleibt alles beim Alten. Doch Verhaltensänderungen sind unbeliebt. Wir richten es uns gerne bequem in unseren Gewohnheiten ein, wünschen uns Stabilität und verlieren schnell das Vertrauen, wenn Transformationsprozesse schiefgehen. Die folgenden Kapitel beleuchten diese drei Aspekte, die maßgeblich hinter dem Scheitern so vieler Veränderungsinitiativen stehen.
Anmerkungen
1 1. https://www.wirtschaftskurier.de/artikel/unternehmen-werden-im-schnitt-nur-9-jahre-alt.html
2 2. https://www.uni-rostock.de/universitaet/kommunikation-und-aktuelles/medieninformationen/detailansicht/n/wie-alt-werden-unternehmen-in-deutschland-4041/
3 3. https://www.mutaree.com/downloads/Change-Fitness-Studie_2018_Infogramm.pdf
1 Von Gewohnheiten und Durchhalte-Parolen: Vermeidung ist Trumpf
Er war der letzte seiner Art, der Quelle-Katalog für Herbst/Winter 2009/2010. Mehr als 80 000 Artikel auf 1500 Seiten, gut zwei Kilogramm schwer, ein wahrer Schmöker, auch »Bibel des Zeitgeists« genannt4. Zweimal im Jahr das Großereignis Katalogdruck mit mehr als 20 Millionen Euro Kosten, für die es am Ende eine Staatsbürgschaft brauchte, damit die Druckmaschinen angeworfen wurden5. Jeweils ein halbes Jahr Preisgarantie und die nervenaufreibende Frage, ob Sortiment und Preise bei den Kunden ankommen – schließlich war die Ware bereits eingekauft. Doch der Katalog konnte den Untergang des Versandhauses nicht aufhalten. Im September 2009 startete das Insolvenzverfahren, zwei Monate später wurde die Abwicklung besiegelt, fast genau 15 Jahre nach der Gründung von Amazon. Der letzte Katalog wurde zum Symbol des Niedergangs eines ehemals hoch innovativen und erfolgreichen Versandhändlers, der selbst Mode aus Paris erschwinglich machte und sich mit diversen Eigenmarken beachtliche Marktanteile sicherte. Doch das größte Versandhaus Europas fing mit der Zeit an, sich selbst im Weg zu stehen: Es wurde zu träge und ineffizient, nahm wuchernde Strukturen und Kosten hin, war zwar im Internet vertreten, doch einem Geschäftsmodell verhaftet, das mit der Flexibilität, Modernität und Präsenz von Amazon nicht mithalten konnte. Neckermann erging es ähnlich: Die Abwicklung erfolgte 2012.
Erfolg gegen den Trend
Otto hingegen ist der Einzige der ehemals drei größten deutschen Versandhändler, der die Digitalisierung überstanden hat, und gilt gar als Musterbeispiel für den digitalen Wandel. Was hat Otto anders gemacht als die anderen beiden Dinos? Offensichtlich wurden mit einer Melange an Neugierde, Bereitschaft zum Ausprobieren, Investitionswillen und Führungsstärke über die Jahre wegweisende Entscheidungen rechtzeitig, mit präziser Marktkenntnis und der passenden unternehmerischen Intuition getroffen. Beispielsweise ging bereits 1995 der erste Online-Shop an den Start und gleichzeitig wurde der Katalog um CD-ROMs ergänzt, die die Kunden aufs digitale Bestellen vorbereiteten. Später folgten die Gründung einer eigenen Digitaltochter und die Investition in Start-ups. Schließlich gelang der Ausbau des Online-Shops zu einem Marktplatz, auf dem auch andere Händler ihre Ware anbieten können6. Von Amazon will man sich dabei über die eigene Kultur und die sie tragenden Werte abheben. Partner sollen Verlässlichkeit und Fairness erleben, die der amerikanische Versandriese immer wieder vermissen lässt. Wie der Wettbewerb am Ende ausgeht, ist heute noch nicht ausgemacht. Doch die auf Fairness, Offenheit und Innovation basierende Unternehmenskultur, die Otto geprägt hat, lässt hoffen.
Fakt ist, dass auch Quelle einen ähnlichen Weg hätte einschlagen können, sich jedoch anders entschieden hat. Sie wenden möglicherweise ein, dass es einfach sei, das rückblickend festzustellen. Im Moment der Entscheidung ist die Zukunft ungewiss und wir liegen mit unseren Einschätzungen und Prognosen genauso oft falsch wie richtig. Ist es dann ein reines Glücksspiel? Nein, das ist es nicht. Vielmehr spielen dabei eine Reihe gut erforschter psychologischer Effekte eine Rolle. »Kognitive Verzerrung« ist der Fachbegriff dafür, Denkfallen sagt der Volksmund dazu. Sehr prominent ist der »status quo bias« oder Status-quo-Fehler. Er führt zum Bevorzugen der Ist-Situation und damit zum Ablehnen von Veränderungen, insbesondere wenn wir wenig über die möglichen Alternativen und deren Konsequenzen wissen7. Der »social proof effect« oder Mitläufereffekt verführt uns dazu, dem sozial Bewährten nachzueifern, also dem, was andere für richtig halten, egal ob Masse oder einzelne Autorität (Dobelli, Die Kunst des klaren Denkens, 2011). Kombiniert werden beide zu einer toxischen Mischung für Unternehmensentscheidungen. Gerade wenn neue Wettbewerber und ihre Technologien erst in den Kinderschuhen stecken und noch nicht abgeschätzt werden können, belächelt man erste Gehversuche oft überheblich und sucht im Austausch mit Mitbewerbern die Bestätigung der eigenen Sicht auf die Welt. Das führt schnell zum trügerischen und beruhigenden Gefühl, dass »die auch nur mit Wasser kochen«, dass es schon nicht so schlimm wird und es das Beste sei, erst mal abzuwarten.
Täuschende Langsamkeit
Und schon lauert die nächste Gefahr: Die meisten Veränderungen laufen anfänglich sehr langsam ab, fast wie in Zeitlupe. Wenn sie allerdings zur Marktreife kommen, nimmt ihre Geschwindigkeit exponentiell zu und ihr Vorsprung ist kaum mehr einzuholen. Dann brechen die eigenen Kunden- und Marktsegmente in kurzer Zeit weg. Zwar sind die evolutionsbiologisch ältesten Teile unseres Gehirns darauf programmiert, reflexartig auf Bedrohungen zu reagieren, jedoch braucht es dazu das Erkennen einer solchen. Kommt ein neuartiges Gerät auf den Markt, wie 2007 Apples iPhone, von dem man nicht mal genau weiß, was es sein soll – Computer, Music-Player oder Telefon –, und hat dieses zunächst nur einen verschwindend geringen Marktanteil, dann ist es nicht verwunderlich, dass sich Nokia als Platzhirsch unter den Anbietern erst mal entspannt zurücklehnt und keinerlei Bedrohung erkennt.
Die meisten Veränderungen laufen anfänglich fast wie in Zeitlupe ab.
Dabei ist bei genauem Hinsehen nur eines von Bedeutung: Wie groß ist das Potenzial der neuen Technologie und deren Geschäftsmodell, Kunden vom größeren Nutzen derselben gegenüber dem Gewohnten zu überzeugen? Dabei sei die Lifestyle-Komponente, die für Kaufentscheidungen auch eine große Rolle spielt, hier bewusst außer Acht gelassen. Smartphone oder herkömmliches Telefon, Online- oder Offline-Buchkauf, Elektroauto mit Ladenetzwerk oder Verbrenner mit Tankstellen, Online-Videothek oder DVDs, Ride-Hailing oder Taxi? Der Nutzen und die Attraktivität für die Kunden haben am Ende entschieden.