VERURTEILT!. Tabita Dietrich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tabita Dietrich
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783039330201
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ich diesen Gedanken auf seinen Wahrheitsgehalt und sehe, was sich zeigt. »Ich brauche eine bessere Matratze, um ausgeruht zu sein«, so ein Gedanke. Wenn ich mich dann auf die dünne Kaltschaummatratze lege, meine Augen schließe und mich einfach dem Atem hingebe, dann verstummt mein Verstand und ich sehe, dass es keine Veränderung im Außen braucht, damit ich meinen Frieden wahren kann.

      Freiheit und Frieden gehen Hand in Hand.

      Es gibt niemanden, der mir meine Freiheit nehmen

      und niemanden, der sie mir zurückgeben kann,

      außer mir selbst.

      Indem ich jenen Raum in meinem Inneren betrete,

      wo der Frieden zu Hause ist,

      finde ich meine Freiheit.

      Im Gefängnis gibt es keine positive Stimulation und keine Quelle der Befriedigung im Außen. Alles sieht immer gleich aus. Jeder Tag war gleich öde und die gleichen Menschen mit den gleichen Gesichtern begegneten mir auf dem Flur. Nur allzu oft vergaß ich, welcher Tag es war. Sobald ich anfing, die Wochen und Monate zu zählen, wurde ich wahnsinnig und bekam das Gefühl, nie mehr aus dem Gefängnis herauszukommen. Ich lernte schnell, alles auszublenden und nur für den Moment zu leben. All jene, die Erleuchtung predigen, indem man nur den Augenblick lebt und alle Gedanken beiseiteschiebt, waren noch nie im Gefängnis. Welch eine Ironie, eine solche Lektion erzwungenermaßen integrieren zu müssen.

      An meinem ersten Tag im Gefängnis erteilte mir eine zu lebenslang verurteilte Frau, die in der Zelle gegenüber meiner wohnte, den wichtigsten Rat auf dieser Reise: »Lebe immer nur einen Tag auf einmal.« Das tat ich von da an, denn anders war Überleben nicht möglich. Ich konnte nicht mehr als den einen Tag bewältigen, den ich gerade erlebte. Meine psychischen Mauern wären eingestürzt und ich hätte mich depressiv in einer Ecke verkrochen, um nie wieder aufzustehen. Ich überlegte mir also immer, was ich aus diesem einen Tag herausholen, was ich erledigen, wie ich mich über Wasser halten und mein inneres Licht aufrechterhalten konnte. Wenn ich diesen einen Tag meistern konnte, war ich auf der Gewinnerseite. Mehr als diesen einen Tag hatte ich nicht. Gestern war bereits eine schwammige Erinnerung und das Morgen konnte ich nicht ins Auge fassen. Ich begann, mir zwar längerfristige Ziele zu setzen, die mich am Laufen hielten und mir einen Fahrplan boten, doch integrierte ich davon immer nur eine Teilaufgabe in meine tägliche Routine. So konnte ich jeden Tag ausfüllen und mich dennoch einer längerfristigen Aufgabe widmen, ohne verzweifelt und hoffnungslos zu werden.

      Meine mentale Kontrolle und Gedankenhygiene verbesserte sich mit jedem Tag. Immer, wenn ich wieder über Zeit oder den Augenblick meiner Entlassung nachzudenken begann, fühlte ich, wie ich augenblicklich zurück in das schwarze, zeitlose Loch fiel, das meine Seele folterte und nichts als Leere und Angst zurückließ. Ich bin kein Mensch, der aufgibt und sich von den Umständen im Leben in die Knie zwingen lässt. »So I’ve always made up my mind«, wie man auf Englisch so schön sagt. Ich entschied mich dafür, nicht aufzugeben, kein Häufchen Elend zu werden und mit einer Verbitterung im Herzen durch den Tag zu gehen. Letztendlich bin ich es, die mein Bewusstsein so ausrichten muss, dass ich mich von den äußeren Begebenheiten nicht negativ beeinflussen lasse. Möglichkeiten, mich zu beschweren, gab es mehr als genug. Möglichkeiten, mich zu bedanken auch.

      Ich wählte, mich auf meine innere Welt zu fokussieren und die Schätze des Geistes und der Seele zu ergründen. Qualitäten wie Liebe, Mitgefühl, Weisheit, Erkenntnis, Stille inmitten des unaufhörlichen Lärms waren die, die ich vertiefen wollte. Und dafür reichte ein Tag, auch schon ein einziger Moment aus. Ich begann zu verstehen, wie komplex das Leben sich gestaltet, wenn man vergisst, dass es nur den Moment gibt. Und wie einfach das Leben sein kann, wenn man ganz und gar im Moment aufgehen kann. Warum sollte ich mir den Stress auferlegen und während ich eine Aufgabe erledigte, mit meinem Verstand bereits bei der nächsten Aufgabe sein? Im Gefängnis sind solch kleine Ausrutscher ein Unterschied von Himmel und Hölle. Nur ein gedanklicher Fehltritt und ich wachte auf und erkannte, dass ich mich nicht in meinem selbst geschaffenen Paradies befand, sondern geradewegs in der Hölle gelandet war. Nur ein Blick auf die äußere Realität und die Vergessenheit holte mich ein, dass ich die Freiheit habe, meine innere Welt so zu erschaffen, wie ich sie mir vorstellte.

      Menschen wurden unwichtig. Ich lernte, alles und jeden um mich herum so gut zu ignorieren, dass ich meist nicht einmal hörte, wenn jemand meinen Namen rief oder ich eine Anweisung erhielt. Was natürlich nicht vorteilhaft war, wenn diese Anweisung von einer Aufseherin kam. Vielleicht weil ich Ausländerin war, wurde mein abwesendes Verhalten entschuldigt. Wirklich wichtig war es mir sowieso nicht. Solange mich alle in Ruhe ließen und ich weiterhin in meiner eigenen Welt sein konnte, war mir alles egal. Ich wusste vorher nicht, dass man so sehr in einem einzigen Moment leben kann, nur mit sich und seiner Fantasie allein. Ich erwartete nichts mehr, und außer meinen Pflichten wurde auch nichts von mir erwartet.

      Ich begann, Zeit und Raum zu vergessen. Nur die drei täglichen Mahlzeiten holten mich ab und an zurück in die zeitliche Realität. Ansonsten widmete ich mich stundenlang dem Schreiben, Meditieren, Nachdenken, Beten oder Lesen. Ich reiste in andere Dimensionen und Parallelwelten, holte Erkenntnisse und Informationen ein, die sich tief in meinen Geist brannten, und erarbeitete mir dadurch jene Freiheit, die mir niemand jemals wieder nehmen kann. Irgendwann hörte ich ganz auf, in Zeit zu denken und die Tage zu zählen. Ich dachte nicht einmal mehr an den einen Tag, der vor mir lag, sondern lebte von Augenblick zu Augenblick. Meine Aufmerksamkeit galt der Aufrechterhaltung meines TAO und nichts weiter zählte. Ich wurde sehr geschickt darin, die Energien zu interpretieren und Visionen zu deuten, die mich in meinen Träumen oder meinen Meditationen heimsuchten. Dadurch konnte ich mich geschickt um Schwierigkeiten navigieren und jene Leute meiden, die dem aktuell vorherrschenden Geist anheimgefallen waren. Sie waren diejenigen, die Streit suchten oder sich durch Nettigkeiten einschleichen wollten, nur um einen selbst mit hinunterzuziehen oder in Schwierigkeiten zu bringen.

      Durch meine Lebensweise wurde ich irgendwann als unfreundliche Person bezeichnet, was mir ehrlich gesagt auch ganz gelegen kam. Denn ich wollte mich mit niemandem anfreunden und auch keine Gefälligkeiten erweisen oder erwiesen bekommen. Ich wollte wie immer einfach nur meine Ruhe haben. Solange ich in meiner Welt lebte, ging es mir fantastisch. Sobald jemand an mein Feld anklopfte, erst einmal energetisch und dann auch physisch, bekam ich schlechte Laune, da mir klar war, dass diese Person irgendetwas von mir wollte. Denn nur aus Nettigkeit und Nächstenliebe nähert sich einem niemand im Gefängnis. Entweder kamen sie an, weil sie Essen brauchten, sich Sex erhofften oder mich in kriminelle Machenschaften verwickeln wollten, und nichts von alledem hatte ich zu geben. Also sah ich zu, dass ich sie so schnell wie möglich wieder loswurde, damit ich in meine Welt zurückkehren konnte, in der ich mich auskannte und wohlfühlte. So wurden aus Tagen Wochen und aus Wochen Monate, bis schließlich zwei Jahre vergangen waren und ich mich fragte, wie ich diese Hölle eigentlich überstanden hatte.

      Nachdem ich diese Lektion verinnerlicht und die ersten Schockerlebnisse verdaut hatte, begann das Kämpfen ums Überleben. Ich nutzte meine Fähigkeit, mich schnell in ein System einzufinden und es adaptieren zu können, und begann, die Leute und die Kultur zu studieren. Ich begriff sehr schnell, dass ich besser dran war, wenn ich mich grundsätzlich als Einzelgängerin aufhalte. Im Gefängnis wird einem nichts geschenkt und die gemeinsame Geschichte der »Weißen« gegen die »Schwarzen« hatte eine tiefe Prägung hinterlassen, die ich als eine von vier weißen Frauen im ganzen Gefängnis deutlich zu spüren bekam. Einer der kulturellen Hintergründe war, dass in einem Drittweltland wie Trinidad grundsätzlich alle Weißen als reich angesehen werden. Weiße Menschen kommen normalerweise als Touristen in ihr Land, geben verhältnismäßig viel Geld aus und fördern so den Tourismus. 100 Euro sind umgerechnet circa 1000 TT-Dollar. Mit diesem Geld kann man in Trinidad und Tobago eine ganze Weile leben.

      Ich hatte die Möglichkeit, durch das Konsulat, das mich alle drei Monate besuchen kam, zusätzliches Essen einzukaufen. Ich kaufte natürlich nur das Allernötigste und teilte mir mein Essen sehr gut ein, da ich wusste, dass ich davon sehr lange würde leben müssen, da ich, wie bereits gesagt, das Brot, das im Gefängnis zum Morgen- und Abendessen ausgeteilt wurde, nicht vertrug. Meine Mitinsassinnen versuchten natürlich, von den großen eingekauften Mengen etwas