Das geistige Straßburg im 18. und 19. Jahrhundert. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Bookwire
Серия: Passagen
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772001161
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der Debatte, lag eine Voreingenommenheit der Akteure gewissermaßen in der Luft, aber selbst bei historisch-philologisch angelegten Untersuchungen zeigt sich bisweilen ein eklatanter Kontrast zwischen nüchterner Detailanalyse und affektgeladener Parteinahme für oder gegen die Sache, die verhandelt wurde. Dies hängt einerseits mit der Verankerung des Disputationswesens innerhalb eines durch und durch rhetorisch fundierten Unterrichtskonzeptes zusammen, andererseits ist die Vorstellung von einem zweckfreien Interesse des innerlich unbeteiligten Forschers aus der Perspektive der Frühen Neuzeit ein Anachronismus – auch noch im 18. Jahrhundert, in dem die emphatischen Forderungen einiger prominenter Vertreter der Aufklärung nicht den Maßstab für die gelehrten Positionskämpfe im Allgemeinen bildeten.

      Die Fachtermini, die zur Beschreibung des Disputationsaktes verwendet werden, spiegeln die Entstehungs- und Funktionsbedingungen der behandelten Texte. Mit dissertatio wird eben nicht eine Inauguraldissertation modernen Zuschnitts bezeichnet, sondern der Thesendruck, der in metonymischer Ausdrucksweise gelegentlich auch disputatio genannt wird. Verfasser der dissertatio war vielfach der betreuende Professor, der als Präses (praeses) der Disputation vorstand. Der Schüler musste als Respondent (respondens) auf Einwürfe der Opponenten (opponentes) „antworten“, also die Thesen verteidigen. Wenn diese tatsächlich vom Respondenten selbst verfasst waren, wurde dies meist auf dem Titelblatt des Druckes vermerkt, indem seinem Namen der Zusatz „respondens et auctor“ beigegeben wurde – was freilich ebenfalls bedeuten konnte, dass der Respondent den Disputationsakt veranlasste, die Kosten übernahm und so weiter. Im Laufe des 18. Jahrhunderts scheint der Anteil der vom Respondenten verfassten Dissertationen zugenommen zu haben, ohne dass dieser Befund bisher statistisch zuverlässig erfasst worden wäre.3

      Thesendrucke sind, wie schon gesagt, von kultur- und wissenschaftshistorischer Relevanz. Sie dokumentieren die Konjunktur von Diskursen und Autoritäten. Sie geben Hinweise darauf, welche Fragen mit welchen Argumenten im Rückgriff auf welche Referenztexte und in Auseinandersetzung mit welchen Gegenpositionen an welchen Universitäten mit welcher praktischen Zielsetzung behandelt wurden. Die folgende Untersuchung führt vor, in welcher Weise die im 18. Jahrhundert virulente Frage nach der Legitimation von Widmungsschriften von genau jenen Personen verhandelt wurde, die allfällige aus der Debatte resultierende Konsequenzen zu gewärtigen hatten.

      II.

      Doch nun zum eigentlichen Gegenstand der Untersuchung: Der Titel De dedicationum literariarum moralitate, den man mit Über die moralische Rechtfertigung gelehrter Dedikationsschreiben paraphrasieren könnte, weckt eine konkrete Lesererwartung. Es werden wohl die üblichen1 Verdikte angesprochen werden, wonach eine Widmung2 die eitle Ruhmsucht des Geehrten bediene und vom Autor derselben lediglich im Vorgriff auf eine erwartete Belohnung verfasst werde. Zugleich dürfte der Verfasser des Thesendruckes, der ja selbst dem Kreise der potenziellen Widmungsschreiber angehört, Rechtfertigungsgründe für die geläufige Praxis vortragen, worunter die Bemühung um Schutz des Werkes vor behördlichen Angriffen, die Notwendigkeit karrierefördernder Protektion durch einen hochgestellten Gönner und natürlich der – nunmehr berechtigte – Wunsch nach materieller Gegenleistung seitens der notorisch finanzschwachen Literaten zu zählen sind. Alle diese Lesererwartungen werden erfüllt, wie sich in einem summarischen Inhaltsreferat des klar gegliederten Textes zeigen lässt. Eine integrale Analyse der Publikation in ihrer Struktur und Materialität führt freilich über die bloße Dokumentation der zeitgenössischen Argumente für und wider das Dedizieren hinaus: Der Thesendruck erweist sich als aufschlussreiches Dokument des akademischen Selbstverständigungsdiskurses in der Zeit der frühen Aufklärung. Dies ist am besten mittels einer Untersuchung zu zeigen, die sich an der Abfolge der textuellen beziehungsweise paratextuellen Elemente orientiert. Die sieben klar voneinander getrennten Teile des Druckes werden in acht Schritten nacheinander behandelt, wobei die Abschnitte 5 und 6 sich bestimmten Aspekten des Hauptteils zuwenden.

      1. Das Titelblatt3 weist dem Thema eine Behandlung in Form des akademischen Streitgesprächs zu. Von dem Respondenten Johannes Breu heißt es hier, er werde an der ehrwürdigen Universität „solenniter disputare“. Der Präses und wahrscheinliche Verfasser der 17 Paragrafen,4 die auf dreißig Seiten entfaltet werden, ist durch seine Würde als Dekan ausgezeichnet; in dieser Position wird er nicht für einen belanglosen Gegenstand verantwortlich zeichnen. Elias Silberrad (1687 bis 1731), seit 1710 Professor an der Straßburger Universität – damals noch für Moralphilosophie, später für Theologie –, war keiner der bedeutendsten Gelehrten am Ort, aber ein fleißiger Verfasser von Thesendrucken. Er hatte 1712 und 1714 bereits zwei Disputationen De eruditorum invidia und 1713 eine über die Moralitas graduum academicorum abgehalten,5 besaß also offenbar eine Affinität zum Thema der Gelehrtenkritik, die allerdings, wie wir sehen werden, im Jahrzehnt zwischen 1710 und 1720 überhaupt eine auffällige Konjunktur erlebte.6 Der unserem Thesendruck thematisch nächstverwandte Text, eine Abhandlung des Torgauer Konrektors Daniel Friedrich Jan mit dem Titel De fatis dedicationum librorum, die interessanter Weise im selben Jahr 1718 im weit entfernten Wittenberg publiziert wurde, war anscheinend nicht Gegenstand einer institutionalisierten Debatte. Auch beschränkte sich Jan auf eine enzyklopädische Zusammenstellung aller greifbaren Fakten und Dokumente zum Dedikationswesen, während unser Text, wie sich zeigen wird, deutlich eine Debatte in utramque partem vorstrukturiert. Außerdem wird durch die Formulierung „De moralitate“ im Titel bereits auf eine pragmatische, konkret eine moralphilosophische beziehungsweise verhaltensethische Zweckbestimmung der Disputation hingewiesen, während Jan unter dem Rubrum „De fatis“ eher die gelehrtengeschichtliche Komponente des Gegenstandes im Rahmen der historia litteraria („Litterärgeschichte“) betont.7

      2. Die Widmungstafel auf der Rückseite des Titelblattes bietet gleich ein authentisches Beispiel für das im Folgenden diskutierte Dedikationswesen. Man darf erwarten, dass nach der Ansicht von Präses und Respondent diese Widmung ein positives, also legitimes Muster der Textsorte ist. Der Respondent richtet sich an zwei Gönner, verdiente Bürger der ehemaligen Reichsstadt8 Straßburg, beide in diversen Ämtern für das Gemeinwesen tätig: Anton Eberhard Bock von Bläsheim und Gerstheim gehörte einer elsässischen Adelsfamilie an und firmiert hier als Mitglied des „Rats der Dreizehn“, zugleich aber auch als „praetor“, wie der höchste, vom französischen König als Kontrollorgan eingesetzte Beamte der Stadt bezeichnet wird. Der Jurist Philipp Caspar Leitersperger (1670 bis 1735) erscheint auf der Widmungstafel als Angehöriger des „Rats der Fünfzehn“.9 Die beiden Männer haben den neunzehnjährigen Kandidaten Johannes Breu (1699 bis 1766), den wir später als Pfarrer an unterschiedlichen Kirchen wiederfinden,10 offenkundig in seinen Studien unterstützt, beide werden als „patroni“ bezeichnet, der eine obendrein als „Maecenas“, der andere gar als „zweiter Vater“. Vor allem durch den Verweis auf die Wohltaten, die ihm und den Seinen zuteil geworden seien („infinitis in se suosque beneficiis“), wird nahegelegt, dass die Förderung wohl eine materielle war. Die Widmungstafel suggeriert eine harmonische Verbindung von städtischem Patriziat und akademischer Welt, eine Verbindung, die hier vorläufig auf einer klaren Trennung von „oben“ und „unten“ – der Name des Respondenten ist in winzigen Lettern an den unteren Rand der Seite gerückt –, von „Geben“ und „Nehmen“ basierte: Die „beneficia“ der Patrone konnte der jugendliche Respondent nur durch die triadisch als „obsequium“, „reverentia“ und „pietas“ formulierte Beflissenheit vergelten. Ausführliche, oft mehrseitige Widmungstafeln scheinen übrigens für die Verhältnisse in Straßburg besonders typisch zu sein. So enthält eine Sequenz von vier im Jahre 1748 unter Johann Philipp Beyckert abgehaltenen Disputationen insgesamt neun Seiten mit sechzehn namentlich aufgeführten (sowie zahlreichen weiteren, gruppenweise angesprochenen) Widmungsempfängern.11 Aber auch sonst waren Widmungstexte gerade in Thesendrucken häufig auf mäzenatische Förderung ausgerichtet und konnten, wie eine Studie von Michael Philipp zeigt, geradezu als „Bewerbungsschreiben“ eingesetzt werden.12

      3. Das vier Seiten umfassende Prooemium13 verortet die Thesensammlung im Kontext der zeitgenössischen Gelehrtenkritik, soweit sie von den Gelehrten selbst artikuliert und als Korrektiv standesspezifischen Fehlverhaltens eingesetzt wurde. Der (selbst)kritische Diskurs, der mit der Negativfigur des „Scharlatans“ einen Passepartout für die unterschiedlichsten Aberrationen bereithält,