Homer und Vergil im Vergleich. Philipp Weiß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Philipp Weiß
Издательство: Bookwire
Серия: Classica Monacensia
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823300137
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von der besonderen Zielsetzung, der Gellius in seiner Schrift folgt, auszugehen, bevor die in 9, 9 und 13, 27 präsentierten kritischen Methoden auf ihre Tendenz hin untersucht werden.

      Über den Zweck, den Gellius mit seinen Noctes Atticae verfolgt, macht er in der Vorrede – sie ist wegen eines wohl nicht beträchtlichen Textausfalls am Beginn nur teilweise erhalten – unterschiedliche Angaben. Eher bescheiden äußert er sich an der Stelle, wo der überlieferte Text einsetzt:Gelliuspraef. 1 Gellius möchte demnach seinen Kindern die Möglichkeit geben, sich bei gelegentlichen Arbeitspausen (interstitione aliqua negotiorum data) geistig zu erholen (quando animus … laxari indulgerique potuisset).3 Im nächsten Abschnitt streicht er dagegen den persönlichen Nutzen, den er selbst mit seiner Sammlung verfolgt, hervor: Sie diene ihm als „Gedächtnisstütze“ bzw. „Wissensvorrat“ (ad subsidium memoriae quasi quoddam litterarum penus), indem sie die wesentlichen Inhalte der von ihm studierten Werke in komprimierter Form aufbewahrt. An einer dritten StelleGelliuspraef. 11 kommt Gellius dann wieder auf den Nutzen für die Kinder zu sprechen, diesmal allerdings in differenzierterer Weise und verbunden mit einem pädagogischen Gedanken. Sein Ziel sei demnach dreifacher Natur: Lesevergnügen, Bildung durch Lektüre und praktische Anwendbarkeit des memorierten Wissens (… quod sit aut voluptati legere aut cultui legisse aut usui meminisse).4 Er nimmt dabei für sich in Anspruch, seine Quellen „nicht ohne kritisches Unterscheidungsvermögen“ (‘alba’ ut dicitur ‘linea’ sine cura discriminis)5 ausgewählt zu haben, um die besagten drei Ziele zu erreichen.6

      Einer Sentenz des Heraklit zufolge ist es nicht Vielwisserei, die den Verstand bildet.7 Darauf beruft sich Gellius in praef.Gelliuspraef. 12 12, wenn er seine Auswahl rechtfertigt, indem er zwei leitende Ziele geltend macht: Den aufnahmebereiten Lesern (ingenia prompta expeditaque) will er nur Anregungen bieten, die die Lust auf weitere Lektüre steigern sollen, für andere hingegen, die wegen drängender Geschäfte von weiteren Studien abgehalten werden, will er durch seine handliche Exzerptensammlung immerhin die Informationen liefern, mit denen sie sich vor dem Vorwurf schändlicher Unwissenheit bewahren können.8 Diese „schändliche und bäurische Unwissenheit“9 erstreckt sich für Gellius auf verba und res (rerum atque verborum imperitia), womit die beiden Hauptbereiche des in den Noctes Atticae vermittelten Wissens bezeichnet sind, nämlich der sprachliche und der antiquarisch-sachliche.

      Die selbstauferlegte quantitative Beschränkung beim Exzerpieren hat zufolge, dass Gellius den einzelnen Themengebieten eine exemplarische Bedeutung zuweisen muss, wenn er gleichzeitig an der enzyklopädischen Grundidee der von ihm kompilierten Sammlung festhalten möchte. Diese enzyklopädische Grundidee kommt besonders in dem Abschnitt zum Tragen, in dem sich Gellius für die Behandlung entlegener Gegenstände aus Sachgebieten wie Grammatik, Dialektik oder Geometrie rechtfertigt:Gelliuspraef. 13

      Non enim fecimus altos nimis et obscuros in his rebus quaestionum sinus, sed primitias quasdam et quasi libamenta ingenuarum artium dedimus, quae virum civiliter eruditum neque audisse umquam neque attigisse, si non inutile, at quidem certe indecorum est. (praef. 13)

      Mit den ingenuae artes spielt Gellius auf den von Varro definierten Disziplinenkanon an, der als geschlossenes enzyklopädisches System eine Gesamtheit des Wissens repräsentieren sollte.10 Gellius legt die Betonung an der zitierten Stelle auf die Notwendigkeit einer bestimmten Form von Bildung für den sozialen Stand ihres Trägers, deren Fehlen zur sozialen Exklusion führt (… si non inutile, at quidem certe indecorum …). Dies rechtfertigt auch den Kompendiencharakter des Werks: Wenn er mit seinen Noctes Atticae bei einem Teil der Leser auch keine weiterreichenden Bildungsbemühungen anregen kann, so erfüllen sie doch ihren Zweck, indem sie diesem Rezipientenkreis zumindest das notwendige Minimum an Wissen an die Hand geben, um den sozialen Anforderungen an einen vir civiliter eruditus zu genügen.

      Eine genauere Bestimmung der inhaltlichen Aspekte im Bildungsbegriff des Gellius geschieht eher beiläufig in praef. 16. Gellius tritt hier präventiv Einwänden entgegen, die sich gegen Abschnitte in seinem Werk richten könnten, in denen von entlegenen, dem Leser noch nicht aus anderen Texten bekannten Gegenständen die Rede ist. Hier sei Gellius zufolge zu prüfen, ob nicht auch sie Bildungswert besitzen:Gelliuspraef. 16

      … aequum esse puto, ut sine vano obtrectatu considerent, an … eius seminis generisque sint, ex quo facile adolescant aut ingenia hominum vegetiora aut memoria adminiculatior aut oratio sollertior aut sermo incorruptior aut delectatio in otio atque in ludo liberalior. (Gell. praef. 16)

      Diese allgemeine Zielbestimmung ist nicht nur auf das „Neue und Unbekannte“ (nova … ignotaque) – d.h. auf Randbereiche im antiken Disziplinenkanon – zu beziehen, sondern gilt für den Stoff der Noctes Atticae generell. Worauf läuft dieses übergeordnete Bildungsziel aber hinaus? Gellius profiliert es an dieser Stelle als ein rhetorisches, dem auch im strengeren Sinne der Grammatik zugehörige Bereiche (sermo incorruptior)11 und Fragen einer für Gebildete angemessenen Freizeitbeschäftigung (delectatio in otio atque in ludo liberalior) zugeordnet sind. Vor allem aber sollen die rhetorischen Kernkompetenzen ingenium, memoria und Redegewandtheit (oratio sollers) durch die Beschäftigung auch mit Nischenthemen ausgebildet werden.

      Dabei fällt freilich auf, dass die rhetorische Theorie nur einen geringen Teil der in den Noctes Atticae angesprochenen Gegenstände darstellt.12 Auch der Lektürestoff der Rhetorenschule – Historiker und Redner13 – tritt, verglichen mit der Dichterlektüre, die strenggenommen ins Metier der Grammatiker fällt, keineswegs in den Vordergrund.14 Die zahlreichen Erörterungen über Archaismen, korrekten Sprachgebrauch, lexikalische Vergleiche zwischen der griechischen und lateinischen Sprache, Etymologien, Morphologie und Semasiologie15 sind der Disziplin nach grammatischer Natur, und C. Sulpicius Apollinaris, die zentrale Grammatikerfigur in den Noctes Atticae, bildet auch auf der Ebene des Personals ein Gegengewicht zu Rhetoriklehrern wie Antonius Julianus und T. Castricius.16

      Gellius formuliert in seiner Vorrede also zwar ein rhetorisches Bildungsziel als Leitidee, berücksichtigt in der Auswahl seiner Themen aber die verschiedensten Themengebiete, wobei sich ein erkennbarer Schwerpunkt im Bereich der grammatischen Bildung ergibt.17 Damit folgt er der Idee von den ingenuae artes als eines umfassenden Wissenssystems, dessen Beherrschung erst den vir civiliter eruditus ausmacht, ohne dass er dieses Wissenssystem in vollem Umfang enzyklopädisch darstellen müsste. Aus dieser Schwerpunktsetzung im Bereich der Grammatik, wie sie sich in der Themenwahl der Noctes Atticae abzeichnet, erklärt sich nun auch das besondere Interesse, das Gellius Vergil als dem exemplarischen Dichter lateinischer Sprache entgegenbringt.18 Fragestellungen und Methoden sind hier wieder vor allem grammatischer Natur: Sprachgebrauch19, Lesarten (Gell. 4, 1, 15), angebliche Verstöße gegen die historia (Gell. 10, 16) oder die Frage, welche Bezüge zwischen Biographie und Werk bei diesem Dichter relevant sind (Gell. 6, 20), stehen hier im Zentrum. An manchen Stellen kommt außerdem zum Ausdruck, dass Gellius Vergil auch als Quelle „verborgenen“ Wissens schätzt, das er dann durch grammatische Sacherläuterung erschließt.20 Gelegentlich kommt er auch auf das Verhältnis zu Homer zu sprechen, wenn er dessen Autorität bei der Behandlung konkreter Vergilstellen entweder bestätigend21 oder – in Fällen von explizit festgestellter aemulatio – kontrastiv zur synkritischen Beurteilung mit Vergil22 heranzieht.

      4.1.2 Autoren- und Textvergleiche in den Noctes Atticae – eine Übersicht

      Die wichtigste Methode, der sich Gellius bzw. die bei ihm auftretenden Gelehrten in ihren literarischen Analysen, aber auch in anderen Zusammenhängen bedienen, ist der Vergleich.1 Das hat verschiedene Gründe und hängt z.T. mit der Genese der Sammlung, z.T. aber auch mit den behandelten Themen selbst und den auf diesen Gebieten einschlägigen Methoden zusammen. Der entstehungsgeschichtliche Aspekt wird aus den Angaben in der Vorrede deutlich: Demnach sind die Noctes Atticae eine Sammlung von Buchexzerpten, deren Abfolge keinem besonderen System, sondern nur dem mehr oder minder zufälligen Lektüregang des Kompilators folgt.2 In einzelnen Kapiteln werden sachlich zusammengehörige Exzerpte gesammelt. Die komparative Auswertung der so zusammengetragenen Abschnitte ergibt sich dann ganz natürlich im Prozess des Sammelns.

      Im