Homer und Vergil im Vergleich. Philipp Weiß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Philipp Weiß
Издательство: Bookwire
Серия: Classica Monacensia
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823300137
Скачать книгу
μέντοι καὶ τὸ ψυχρὸν ἐν τρισίν, ὥσπερ καὶ τὸ μεγαλοπρεπές. ἢ γὰρ ἐν διανοίᾳ, καθάπερ ἐπὶ τοῦ Κύκλωπος λιθοβολοῦντος τὴν ναῦν τοῦ Ὀδυσσέως ἔφη τις· φερομένου τοῦ λίθου αἶγες ἐνέμοντο ἐν αὐτῷ. ἐκ γὰρ τοῦ ὑπερβεβλημένου τῆς διανοίας καὶ ἀδυνάτου ἡ ψυχρότης. (Demetr. eloc. 115 = 28, 3–7 Radermacher.)

      („Der frostige Stil entsteht aus drei Ursachen, wie auch der hohe. Die eine liegt im Gedanken, so wie einer bei der Beschreibung des Kyklopen, der Steine auf das Schiff des Odysseus wirft, gesagt hat: ‘Während der Stein flog, weideten noch Ziegen darauf.’ Die Frostigkeit entsteht auch durch den übertriebenen Gedanken und das Unmögliche.“)

      Man hat wegen der inhaltlichen Nähe sogar angenommen, dass es sich bei den von Demetrios angeführten Worten um ein weiteres Zitat aus Dorions Homermetaphrase handelt.17 Die Darstellung von sachlich nicht nachvollziehbaren und somit unglaubwürdigen Begebenheiten – wie hier der Vorstellung, der vom Kyklopen geworfene Stein sei so groß gewesen, dass noch Ziegen darauf weiden konnten – wird bei Demetrios jedenfalls für die besagte ‘frostige’ Wirkung verantwortlich gemacht.Demetrioseloc. 124–127

      Bei den anschließenden Ausführungen zur Übertreibung (ὑπερβολή) in eloc. 124–127 = 29, 25–30, 14 Radermacher wird dem Aspekt des ἀδύνατον dann sein systematischer Ort zugewiesen: Die Hyperbole hält Demetrios für die schlimmste Ausprägung des frostigen Stils, und macht für sie neben dem Vergleich (καθ’ ὁμοιότητα; Bsp.: Il. 10, 437: θείειν δ’ ἀνέμοισιν ὁμοῖοι „im Lauf wie die Winde“) und der Überbietung (καθ’ ὑπεροχήν; Bsp.: Il. 10, 437: λευκότεροι χιόνος „weißer als Schnee“) das besagte Unmögliche (κατὰ τὸ ἀδύνατον; Bsp.: Il. 4, 443: οὐρανῷ ἐστήριξε κάρη καὶ ἐπὶ χθονὶ βαίνει „sie stemmte das Haupt gegen den Himmel“) als Quelle aus.18

      Was hat man sich unter der Darstellung unmöglicher Sachverhalte genau vorzustellen und welcher Stellenwert kommt diesen ἀδύνατα in der epischen Dichtung zu? Ein Abschnitt in der Poetik des Aristoteles gibt hier nähere Auskunft. Bekanntlich entwickelt Aristoteles seine Theorie vom Epos, indem er sie kontrastiv der zuvor dargelegten Tragödientheorie gegenüberstellt und besonders auf die Unterschiede der beiden Dichtungsformen eingeht.Aristotelespoet. 1460a11–b2 Eine der sechs Hauptunterschiede besteht in der Verwendung des Wunderbaren (τὸ θαυμαστόν)19, für das er das Ungereimte (τὸ ἄλογον) als Hauptquelle identifiziert.20 Für Aristoteles gilt die anthropologische Grundannahme, dass das Wunderbare Gefallen erregt.21 Im neunten Kapitel hatte er ausgeführt, dass der Tragödiendichter seine bekannten Wirkungsabsichten vor allem durch überraschende Handlungsverläufe erreichen kann, wobei die innere Logik der handelnden Charaktere, d.h. die Wahrscheinlichkeit, gewahrt bleiben muss. Das ist ein Hinweis auf die Funktion, die dem θαυμαστόν zugewiesen wird: Das Wunderbare soll die Aufmerksamkeit des Publikums erwecken, um dem gewünschten psychologischen Effekt zu umso größerem Durchschlag zu verhelfen.22 Wenn Aristoteles nun auf das Staunenswerte im Epos zu sprechen kommt, so geht es ihm nicht um diese eindeutig als positiv gewerteten überraschenden Handlungsverläufe, sondern um tatsächliche logische Inkonsistenzen, die aber um ihrer Wirkung willen erlaubt sind und denen er besonders in der epischen Dichtung einen Platz einräumt, weil der epische Dichter nicht auf die besonderen realistischen Erfordernisse des Bühnengeschehens Rücksicht zu nehmen hat.23 Im Epos hat das Widersprüchliche seinen Platz, insofern es nur die beabsichtigte überraschende Wirkung erreicht. Aristoteles zitiert einige Beispiele für Inkonsistenzen im Drama und im Epos, u.a. aus der Odyssee.24 Als wichtigstes Kriterium gilt dabei, dass der epische Dichter den Eindruck der Wahrscheinlichkeit erweckt, auch wenn er – was Aristoteles freilich eigentlich ablehnt – eine inkonsistente Handlungsabfolge konstruiert hat.25

      Eng mit der Frage, welche sachlichen Unstimmigkeiten ein Dichter in Kauf nehmen darf, hängt die Vorstellung zusammen, dass der Poesie anders als etwa der Geschichtsschreibung eine besondere Freiheit (ποιητικὴ ἐξουσία) zustände.26IsokratesEuag. 9–10 Die Idee ist bereits bei Isokrates zum Ausdruck gebracht, der im Euagoras die Unterschiede zwischen Prosaautoren und Dichtern sowohl auf der Ebene der Gedanken – Gegenstand der Dichtung sind etwa die Handlungen der Götter – wie auch auf der der Sprache festmacht: Den Dichtern werden auf beiden Gebieten Sonderrechte zugestanden.27 Der Terminus ποιητικὴ ἐξουσία bzw. ἄδεια wird zwar meist gebraucht, um morphologische oder stilistische Idiosynkrasien zu bezeichnen.28 Doch beruft man sich auch auf ποιητικὴ ἐξουσία, wenn es gilt, sachliche Ungenauigkeit oder Widersprüche bei Dichtern zu entschuldigen. Polybios etwa unterscheidet in dem bei Strabo 1, 2, 17 überlieferten Fragment zwischen μεταβολή (zufällig unterlaufene Vertauschung), ἄγνοια (Unkenntnis) und ποιητικὴ ἐξουσία (bewusst in Anspruch genommene dichterische Freiheit), um sachliche Ungereimtheiten bei Dichtern zu erklären.29 Auch andere Ausdrücke in den Scholien verweisen auf Erklärungen dieser Art, wie etwa der Hinweis auf ποιητικὴ ἀρεσκεία oder darauf, dass der Dichter etwas κατ’ ἐπιφοράν („ohne ersichtlichen Grund“) gesagt habe.

      Ein aufschlussreiches Beispiel für einen Fall von dichterischer Lizenz – ebenfalls in der homerischen Kyklopenepisode – gibt die Diskussion über die IterataHomerOd. 3, 72–74 Od. 3, 72–74 undHomerOd. 9, 253–255 Od. 9, 253–255. Aristarch begründete seine Entscheidung, die zweite Stelle als ursprünglich homerisch anzuerkennen und deshalb allein in den Text aufzunehmen gegen Aristophanes von Byzanz mit dem Argument, dass die Worte Nestors, der Telemachos und Peisistratos gefragt hatte, ob sie etwa Piraten seien, entgegen der Meinung des Aristophanes nicht in den Kontext von Od. 3 passten. Bei der zweiten Stelle hingegen ergäben sich zwar auf den ersten Blick einige Widersprüche, doch müsse man dabei die Freiheit des Dichters in Rechnung stellen und die Verse anerkennen:

      ὁ δὲ Ἀρίσταρχος οἰκειότερον αὐτοὺς τετάχθαι ἐν τῷ λόγῳ τοῦ Κύκλωπός φησιν· οὐδὲ γὰρ νῦν οἱ περὶ Τηλέμαχον λῃστρικόν τι ἐμφαίνουσι. δοτέον δέ – φησί – τῷ ποιητῇ τὰ τοιαῦτα· καὶ γὰρ ναῦν αὐτὸν παράγει εἰδότα, “ἀλλά μοι εἴφ’ ὅπη ἔσχες ἰὼν εὐεργέα νῆα” [ι 279], καὶ συνίησιν Ἑλληνίδα φωνήν. (schol. DHMa ad Od. 3, 71a = II 30, 6–10 Pontani)

      („Aristarch aber sagt, dass man sie passender in die Rede des Kyklopen einfügt. Hier nämlich erwecken Telemachos und seine Gefährten nicht den Anschein, als wären sie Piraten. Er sagt, man müsse dem Dichter das zugestehen: Er lässt ihn ja auch das Schiff kennen, ‘Sage mir aber, wo du dein gut gebautes Schiff hast’, und er versteht die griechische Sprache.“)

      Daneben kann sich die Freiheit des Dichters auch auf weitere Bereiche beziehen, etwa auf die Möglichkeit, tradierte Mythen abzuwandeln und den Erfordernissen der eigenen Dichtung anzupassen, oder auf eine spezifische Freizügigkeit, wenn sich der Dichter an die Götter wendet.30 Die zahlreichen diesbezüglichen Scholiennotizen und das breite Anwendungsfeld der Kategorie der dichterischen Freiheit dürfen dabei aber nicht den Eindruck erwecken, dass den Dichtern tatsächlich alles erlaubt war. Die Zeugnisse geben vielmehr zu erkennen, dass die Grenzen der Freiheit dichterischer Darstellung ein notorisches Thema kritischer Diskussionen war: Nicht alles