Pragmatik der Veränderung. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823301820
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ein weiteres mit dem Sprechen des Englischen verwandtes Thema. Nachdem S1m Defizite zugibt („Nö, gar nichts fast“, PF 13-14), setzt der Hilfeprozess von L2w ein, welcher sich nun darauf bezieht, S1m bei dem vermeintlich gemeinsam gesetzten Ziel, Englisch sprechen zu können, zu unterstützen. L2w setzt zunächst mit einem Vorstrukturieren von Denkalternativen ein, die S dazu befähigen sollen, zu erkennen, dass er mehr (verstehen) kann als er annimmt. Dies bewerkstelligt sie, indem sie eine konkrete Situation aus dem Unterricht im Gespräch präsent macht und Wissen von S1m dazu elizitiert („hast du verstanden, was Roland gesagt hat?“ (PF 17-18)). Nachdem S1m bestätigt, dass er in der konkreten Situation seinen Mitschüler verstanden hat und damit das für das Entwickeln von Denkalternativen relevante Wissen (S1m konnte in einer Einzelsituation etwas verstehen) genannt ist, könnte L2w den Schüler nun selbst weitere Schlüsse ziehen lassen (Denkalternativen bewerten und gewichten). L2w nimmt allerdings eine weitere Vorstrukturierung vor, indem sie zunächst mit „siehst du?“ (PF 18) anzeigt, dass weitere Implikationen aus der elizitierten Einzelsituation abzuleiten sind. Diese expliziert sie dann prompt und verallgemeinert das Können von S1m in der Einzelsituation zunächst auf „du verstehst schon richtig viel“ bis zu „mehr […], als du im Moment glaubst“ (PF 19-20). Damit gewichtet sie also die Denkalternativen des Schülers „ich verstehe gar nichts“ vs. „ich verstehe mehr, als ich glaube“ explizit in Richtung der letztgenannten Alternative. Dieser Gewichtung von Denkalternativen liegt die nicht explizit gemachte Annahme zugrunde, dass verstehen können wichtig ist, um sprechen zu können.

      Daran anschließend kommt L2w zum ursprünglichen Thema, dem Sprechen, zurück. Nachdem sie das Wissen des Schülers über sich und seine Verstehenskompetenzen umstrukturieren geholfen hat (ob S1m ihrer Gewichtung folgt, bleibt offen), geht sie sogleich über zum Entwickeln eines Handlungsplans, bei dem sie ebenfalls durch Vorstrukturierung unterstützt. In PF 20-21 fordert sie (formuliert als Wunsch) ein Verhalten des Klienten („ich würd mir wünschen, dass du auch versuchst, das selber zu sprechen“) und gewichtet damit mögliche Handlungsalternativen zur Erreichung des Ziels Englisch sprechen. Sie selbst nimmt also mental eine Auswahl, Bewertung und Gewichtung möglicher Handlungsalternativen, die S zu seinem Ziel führen können, vor und präsentiert verbal lediglich das Ergebnis dieser Erwägungen.

      L2w beginnt dann, den von ihr präferierten Plan zu begründen („weil“ (PF 19)) und verbalisiert eine Reihe von Wissenselementen, die auf eine Umstrukturierung mentaler Prozesse bei S1m abzielen und damit letztlich seinen Handlungsprozess vorstrukturieren sollen: Sein Verstehen des Englischen, das bereits als Ressource etabliert wurde und hier als Begründung für ein Sprechenkönnen angeführt wird, und ein Normalisieren („es is überhaupt kein Problem“ (PF 24)) seiner Schwierigkeiten (beim Sprechen) und präsentiert sogleich die von ihr präferierte Lösung („dann kannst du immer fragen“1 (PF 25)). Damit gewichtet sie in sehr schneller Folge Wissenselemente, die S1m dabei unterstützen können, seine Perspektive auf sein Handeln umzustrukturieren, also zum einen zu erkennen, dass er bereits einiges beherrscht (Verstehen) und dass die mangelnden produktiven Fähigkeiten nicht per se problematisch, sondern erklärbar sind. Zudem bietet sie die Möglichkeit an, auch bei Unsicherheit und Problemen um Hilfe zu bitten. Damit macht sie bereits konkrete Vorschläge für eine Umsetzung der von ihr präferierten Handlungsalternative des Sprechens. Ob S1m diese Denkalternativen, die letztlich seine Perspektive auf sich selbst umstrukturieren sollen, allerdings übernehmen kann, bleibt hier offen (aufgrund der Geschwindigkeit, mit der diese Gewichtungen eingebracht werden, erscheint es uns eher fraglich). L2w fährt dennoch mit der Handlungsplanung für S1m fort, indem sie eine Handlungsalternative konkret gewichtet (das Melden in dafür vorgesehenen Situationen): „Wolln wir versuchen, ob du dich im Klassenenglisch, […] dass du ähm versucht, dich zu melden?“ (PF 25-27). Dieser Handlungsplan wird als „Versuch“ in Frageform verbalisiert, allerdings bleibt dem Schüler in der gegebenen Situation – Gespräch mit zwei Lehrerinnen, deren Beurteilung für ihn versetzungsrelevant ist – kaum die Option, diesen Wunsch abzulehnen (dies sicher auch, weil die vorgeschlagene Handlung, sich am Unterricht zu beteiligen, in diesem Zusammenhang weder ungewöhnlich noch besonders schwierig ist). Der Schüler stimmt einsilbig zu („Jā“ (PF 24)), ohne diese Zustimmung weiter auszuführen und damit eine eigene Handlungsmotivation erkennen zu lassen (vgl. Scarvaglieri 2017). Nach dieser Reaktion konkretisiert die Lehrerin ihren Vorschlag zu einem Handlungsplan, wonach der Schüler „einmal in der Stunde“ versucht, „sich zu melden“ (PF 28-30). Auch hier wird die Zustimmung des Klienten eingeholt („Ja? Wär das ne Vereinbarung?“ (PF 31)), diese erfolgt erneut einsilbig („Jā“) und Fischbach zufolge „sehr widerstrebend“ (2015: 65). Auch hier wird deutlich, dass L2w an die Grenzen des Helfens stößt: Beim sprachlichen Helfen muss die Gewichtung von Denk- und Handlungsalternativen vom Hilfeempfangenden schließlich übernommen werden, ein tatsächliches Abnehmen dieser Handlung durch den Helfenden, wie es hier vollzogen wird, ist nicht möglich. Dies gilt v.a. in Konstellationen, in denen, wie in diesem Beispiel, die Lösung im Einflussbereich der Hilfesuchenden liegt (Lösungsradius, vgl. Pick 2017: 454f.).

      Es handelt sich hier also um ein Helfen, bei dem die helfende Person das Problem (schlechte Englischkenntnisse) und das Ziel (häufiger Englisch sprechen) identifiziert, in wenigen Schritten eine Umstrukturierung mentaler Prozesse und einen Handlungsplan zum Erreichen dieses Ziels entwirft und versucht, die hilfeempfangende Person zur Einhaltung dieses Plans zu verpflichten – letzteres, indem das Einverständnis eingeholt und dieser Plan schriftlich fixiert wird (PF 32-33). Das Handlungsfeld des hilfeempfangenden Klienten wird also sehr stark vorstrukturiert. Das Vorstrukturieren von Denk- und Handlungsalternative zeigt sich dabei als verkürztes Nennen von einer bereits durch L gewichteten Alternative und als Verbalisierung eines „fertigen“ Handlungsplans, der sich zudem auf ein Ziel bezieht, das S1m nicht oder nur widerwillig übernimmt.2

      Damit ist unseres Erachtens ein Grenzfall des (aufgedrängten) Helfens erreicht, der sich allein vor dem institutionell gesetzten Hintergrund noch als Helfen bezeichnen lässt, da eine erhöhte Unterrichtsbeteiligung zu besseren Sprachkenntnissen und v.a. einer entsprechend verbesserten Bewertung des Schülers beitragen und damit auch seinen Interessen entsprechen kann.

      4. Zusammenfassende Betrachtung: Helfen und Veränderung

      Wir haben in diesem Beitrag helfendes Handeln als einen Handlungskomplex rekonstruiert, der in sehr unterschiedliche andere Handlungskomplexe eingebettet werden kann. Helfendes Handeln haben wir als Abnehmen von (Teil-)Handlungen konzipiert. Sprachliches Helfen ließ sich auf dieser Basis bestimmen als das Vorstrukturieren von Denk- und Handlungsalternativen bei der Handlungsplanung, die durch das helfende Handeln konkretisiert wird. Dieses Vorstrukturieren von Denk- und Handlungsalternativen kann unterschiedlich stark vorgenommen werden und beinhaltet dann je auf Denk- oder Handlungsalternativen bezogen ein Aktivieren bzw. Nennen von Wissen (schwache Vorstrukturierung), ein Bewerten von Alternativen basierend auf Bewertungskriterien bzw. Maßstäben (mittlere Vorstrukturierung) oder ein Gewichten von Alternativen (starke Vorstrukturierung). Voraussetzung dazu ist eine gemeinsame Zielvorstellung, die entweder vorgegeben (konstellationsabhängig ‚typisch‘) ist oder ausgehandelt wird. Diese Zielvorstellung kann während eines Hilfeprozesses, in dem in der Regel der Handlungskomplex des Helfens mehrfach ganz oder teilweise durchlaufen wird, immer wieder verändert oder neu ausgehandelt werden. Auch zur Entwicklung einer Zielvorstellung kann der Handlungskomplex Helfen eingesetzt werden, was in verschiedenen Gesprächstypen einen großen Stellenwert einnehmen kann (vgl. das Merkmal Prozessfokus, Pick 2017: 446-448). Das Helfen kann der Überwindung eines konkreten Handlungswiderstandes (z.B. dem Finden einer Entscheidung) dienen, aber auch mit dem Ziel eingesetzt werden, Hilfeempfangende dazu zu befähigen, das Nennen, Bewerten und Gewichten von Denk- und Handlungsalternativen künftig selbst vorzunehmen (vgl. Oevermann 2013). Dies geschieht zum einen, weil ihnen beim sprachlichen Helfen schrittweise gezeigt wird, wie man Wissen und Bewertungen bezogen auf Alternativen deliberiert. Zum anderen müssen Hilfeempfangende die von Helfenden vorgenommenen Vorstrukturierungen selbst nachvollziehen und mental integrieren. Dies ist immer dann besonders relevant, wenn eine Lösung (also die praktische Umsetzung des Handlungsplans) nicht im Einflussbereich des Helfenden liegt.

      Grundlegend für das sprachliche Helfen ist, dass es als interaktionaler Prozess von (typischerweise) zwei Parteien konzipiert ist, die den Prozess beide mitbestimmen und verschiedene