Mit Chorlyrik und Dramatik haben wir es demnach mit zwei Ausprägungen der kultisch und politisch fest institutionalisierten (Gebrauchs-)Literatur zu tun, die miteinander in engstem Zusammenhang stehen. Das mit der Entwicklung der Dramatik aus der Chorlyrik begründete generische Verhältnis der beiden Großgattungen erschöpft sich nicht in einem Nacheinander in sich abgeschlossener literarischer Phänomene. In geradezu sublimierter Weise hat die Gattung der Tragödie vielmehr mit dem für sie konstitutiven Chor ihre Keimzelle in sich integriert und, wie noch zu zeigen sein wird, transformiert. Gerade das institutionalisierte Nebeneinander der beiden Genres konstituiert dabei einen Rahmen gegenseitiger Beeinflussung und Nutzbarmachung. So verwundert es einerseits nicht, dass tragische Dichter auch Chorlyrik verfasst haben sollen (Sophokles wird die Autorschaft von Paianen zugeschrieben), andererseits ist ein Reflex der „Neuen Musik“, wie sie die Komposition der Dithyramben ab einem gewissen Zeitpunkt geprägt hat, in den Tragödien des Euripides zu finden.20
Auch dem tragischen Chor haften so trotz seiner Überführung und Implementierung in eine andere Gattung entscheidende Charakteristika der selbstständigen Chorlyrik und damit des kulturellen Phänomens „Chor“ an. Anders gesagt: Mit dem Chor ist ein den Zuschauern zutiefst vertrautes Moment der sie umgebenden und ihren Alltag maßgeblich prägenden song-and-dance-culture konstitutiver Bestandteil der Tragödie. Für den Rezipienten erfahrbar wird dieser Umstand in der eigentlichen Performativität des tragischen Chors, die in vielen Punkten der eines realen, d.h. der Lebenswirklichkeit entstammenden Chors entspricht: Der tragische Chor singt Lieder, die hinsichtlich ihres Inhalts oder ihrer (musikalischen) Form an real existierende Gattungen und Genres der Chorlyrik angelehnt sein können, er tritt als homogenes Kollektiv auf,21 seiner Performanz haftet im Rahmen des darzustellenden Mythos das Moment der Öffentlichkeit an, er ist mit einiger Regelmäßigkeit Träger gewisser angedeuteter oder ausgeführter Rituale (im Besonderen: Anrufung von Gottheiten) und hat „Zugang zum Bereich der Erinnerung“,22 d.h. kann sich gegebenenfalls Einsichten des kulturellen und gemeinschaftlichen Gedächtnisses der Polis bzw. der Gesellschaft zu eigen machen.23
Für das ursprüngliche Publikum war das Phänomen Chor also sowohl in seiner rituell-lebensweltlichen Ausprägung als auch in seinen literarischen Formen (und demnach auch innerhalb der Tragödie) kein den Seh- und Lebensgewohnheiten fremdes Phänomen; vielmehr lässt sich mit LEY formulieren: „For Athenians, the tragic chorus was a part of their lives“.24 Als der Alltagskultur entspringendes Moment ist der Chor für GRUBER ein besonderes Identifikationsmoment, das geradezu eine Brücke zwischen der den tragischen Mythos zeigenden Heroenwelt und dem Erfahrungsbereich der Rezipienten darstellt;25 zwischen Chor und Zuschauer bestehe dementsprechend eine „natürliche Nahbeziehung“.26
Mit dieser performativen Ähnlichkeit bzw. Verwandtschaft zum (dionysischen) Chor der song-and-dance-culture ist ein Pol der von ZIMMERMANN sogenannten „janusköpfigen Natur“27 des tragischen Chors bezeichnet. Inwieweit der so verstandene Chor nun innerhalb der Tragödie selbst verankert ist, wird der folgende Abschnitt zeigen.
3. Der Chor als Formteil der Tragödie
3.1 Spektrum I: der tragische Chor als (kollektive) dramatis persona
Den tragischen Chor unterscheidet ein zentraler Umstand vom realen Chor, wie er zentraler Bestandteil der Lebenswirklichkeit der attischen Bürger war: Dem Chor kommt in jeder Tragödie eine je eigene, im Personenspektrum des Stücks verortete Rolle zu. Innerhalb der dramatischen Fiktion tritt der Chor demnach nicht als anonymer (dionysischer) Ritualchor auf, sondern nimmt an der Nachahmung der Handlung als (kollektive) dramatis persona teil.1 Als solche kann er klar benannt werden, steht zu den übrigen Personen des Stücks in einem konkret zu bestimmenden Verhältnis, kann über sich selbst sprechen und sich innerhalb seiner Ausdeutung der Situation verorten.2
Bereits in seiner Poetik formuliert so auch Aristoteles die Forderung, dass der tragische Chor ein den Schauspielern analoger Bestandteil des Dramenganzen sein soll:
καὶ τὸν χορὸν δὲ ἕνα δεῖ ὑπολαμβάνειν τῶν ὑποκριτῶν καὶ μόριον εἶναι τοῦ ὅλου καὶ συναγωνίζεσθαι μὴ ὥσπερ Εὐριπίδῃ ἀλλ’ ὥσπερ Σοφοκλεῖ. τοῖς δὲ λοιποῖς τὰ ᾀδόμενα οὐδὲν μᾶλλον τοῦ μύθου ἢ ἄλλης τραγῳδίας ἐστίν· διὸ ἐμβόλιμα ᾄδουσιν πρώτου ἄρξαντος Ἀγάθωνος τοῦ τοιούτου. (1456 a 25f.)
Den Chor aber muss man wie einen der Schauspieler behandeln, er muss Teil des Ganzen sein und an der Handlung beteiligt sein, nicht wie bei Euripides, sondern wie bei Sophokles. Bei den übrigen Dichtern gehören die gesungenen Partien um nichts mehr zur jeweiligen Handlung als zu irgendeiner anderen Tragödie. Daher sind die gesungenen Partien bei ihnen <bloße> Einlagen. Der erste, der damit begann, war Agathon. 3
Die geradezu vorbildliche Verwirklichung seiner Forderung sieht Aristoteles so in besonderem Maß bei Sophokles gegeben, dessen Chortechnik er nicht nur einerseits von der des Euripides, andererseits von der Praxis „anderer Dichter“ abgesetzt, sondern damit implizit empfiehlt und so zur nachahmenswerten Norm erhebt.
Damit ist das Spannungsfeld des tragischen Chors eröffnet, wie es sich hinsichtlich seiner Genese sowie seiner Verortung in der Tragödie selbst ergibt: Das aus der Lebenswirklichkeit sowie der an ihr orientierten (Gebrauchs-)Dichtung stammende Phänomen Chor bildet als konstitutiver Bestandteil der Gattung Tragödie nicht nur ihren literarischer Ursprung, sondern ist gänzlich in die dramatische Struktur eingepasst, selbst dramatisiert und somit in einer übergreifenden Ordnung geradezu aufgehoben.
Was lässt sich im Rahmen der hier zu gebenden Einführung zur Einbindung des Chors als einer kollektiven dramatis persona in den darzustellenden Mythos und die jeweilige Einzeltragödie festhalten?4
Im Bereich der mythologischen Tragödie, die den Anteil der tragischen Dichtungen mit zeitgeschichtlichem5 oder frei erfundenem Inhalt6 überwogen haben wird, bietet die Besetzung des Chors dem Dichter die nahezu größten Gestaltungsmöglichkeiten.7 So sind die zentralen Figuren der Handlung bei einem mythologischen Stoff bereits mehr oder minder vorgegeben, die Rollenzuweisung an den Chor jedoch unterliegt ausschließlich der dichterischen Gestaltung. Zwei grundlegende Möglichkeiten, den Chor einer Tragödie mythischen Inhalts zu besetzen, führt HOSE auf:8 Entweder stelle der Chor die Verkörperung einer vom Mythos bereits gegebenen und in ihm notwendigerweise handelnden Gruppe dar (z.B. die Freier der Penelope in einer Tragödie, die Odysseusʼ Heimkehr und Rache inszeniert), oder er bestehe aus Personen, „die in der jeweiligen Sage nicht explizit erscheinen, jedoch leicht aus dem Bereich, in dem die Sage angesiedelt ist, ergänzt werden können“.9 Dass in den überlieferten Tragödien die auf die zweite Art gebildeten Chöre weitaus überwiegen, ist auf Grund der von HOSE aufgeführten dramaturgischen Schwierigkeiten eines dem Mythos bereits immanenten Chors nachvollziehbar.
Die geplante Aussageabsicht der Tragödie, das intendierte Verhältnis der Personen zum Chor und die gesamte dramaturgische Komposition fließen so bei der Konzeption des Chors zusammen. Konkret gesagt: Indem Sophokles beispielsweise seinen Philoktet – im Gegensatz zu Aischylos und Euripides – auf einer völlig unbewohnten Insel sein Dasein fristen lässt, prägt er den Mythos gemäß seiner Konzeption der Tragödie und muss daher auch dem Chor eine speziell für diese Komposition passende Rolle zuweisen.10 Im Gegenzug kann man sich vorstellen, dass die Antigone eine völlig andere Tragödie wäre, wenn der Chor nicht aus dem politisch und religiös in das