For the ‘othernessʼ of the chorus, we must acknowledge, takes no single form, and no one formula will define it for us. It can only be defined in terms of the very variety of the different perspectives which the playwright may impose upon his tragic fiction. […] The collective experience and the collective voice of the chorus may oppose that of the individual tragic agent in an almost bewildering variety of ways.49
Dass der Chor dabei allerdings ein Akteur des Geschehens bleibt, steht für GOULD außer Frage; seine allgemeinen Bemerkungen zur „Rolle“ des Chors und dessen Einbindung ins dramatische Geschehen50 sowie seine Absage an die Gleichsetzung „Äußerung des Chors = Äußerung des Dichters“51 sind dabei im Wesentlichen so zentral wie bekannt. Seine Ausführungen zur dauernden Präsenz des Chors als eines zentralen Moments52 sind dabei größtenteils nachvollziehbar.53 GOULD zieht daraus folgende Konsequenzen:
After the opening scene […] nothing is spoken, nothing experienced […] except in the presence of that collective, emotionally involved witness. There is no privacy in that world, and even the silence of the choral presence can exert a palpable force.54
Dies scheint mir allerdings zweierlei zu verkennen: Zum einen nimmt sich der Chor (wie die Einzelanalysen der sieben Sophokles-Tragödien zeigen werden) oft genug aus dem eigentlichen Bühnengeschehen völlig zurück und ist zwar physisch präsent, übt jedoch kaum einen wirklichen Einfluss auf das dramatische Handeln der Akteure aus. Zum anderen bildet gerade die Gesprächssituation Protagonist-Chor oft eine besonders intime Szenerie, in der erst das volle Seelenleben der Figur seinen Ausdruck findet.55
GOLDHILL56 legt in seiner Beantwortung des Aufsatzes von GOULD einen etwas anderen Fokus: Mit Blick auf die soziokulturellen Implikationen sowie die kultisch-politischen Momente57 will er GOULDs Ansatz weiterdenken und ausführen. Im Besonderen fragt er nach der Autorität des Chors und seiner „Stimme“58 angesichts der von GOULD hypostasierten „Marginalität“ der Person des Chors in sozialer Hinsicht. Sein Fazit bleibt vor dem Hintergrund der entfalteten Details allerdings sehr allgemein:
The chorus both allows a wider picture of the action to develop and also remains one of the many views expressed. The chorus thus is a key dramatic device for setting commentary, reflection, and an authoritative voice in play as part of tragic conflict.59
Besonderen Widerhall finden die Ausführungen von GOULD und GOLDHILL in den theoretischen Ansätzen, die konkret nach der Autorität („authority“), d.h. der Verlässlichkeit chorischer Aussagen in verschiedenen Kontexten fragen. So postuliert SILK60 ausgehend von einer Unterscheidung der Stilebenen in verschiedenen Chorpartien das Vorhandensein mehrerer „Stimmen“ („voices“), deren Gesamtheit den Chor einer jeweiligen Tragödie ausmacht.61 Diese „Polyphonie“ des Chors gibt ihm dabei Anlass zur berechtigten Warnung, dem Chor in seinen Aussagen generell mehr Kohärenz zuzuschreiben als ihm innewohnt:
[W]e must, of course, listen to each play, and each lyric, to decide how much coherence and how much uniformity there actually is – and we must be prepared for the degree of coherence and uniformity to vary from play to play, as also within each play.62
Festzuhalten bleibt, dass die Ansätze von GOULD (und GOLDHILL) im Wesentlichen nachvollziehbar sind und gerade das bereits bei BURTON herausgestellte Moment der „otherness“ als Gegenmoment der reinen dramatis persona-Theorie für die vorliegende Untersuchung von einiger Bedeutung ist. Allerdings bleibt zu betonen, dass gerade die von den Autoren gefällten Generalaussagen über den Chor, die Tragödie und das Tragische dazu neigen, ein zu einheitliches Bild der besonders komplexen und reichhaltigen Phänomene zu zeichnen. Dass sich zu einzelnen Kernaussagen dabei immer wieder konkrete Gegenbeispiele finden lassen und von den Autoren auch eingeräumt werden,63 muss im Ergebnis dazu führen, die allgemeinen Thesen mit einiger Vorsicht anzunehmen und sie gegebenenfalls an den Werken selbst zu überprüfen. Die vorliegende Arbeit stellt, wenn auch unter anderen methodischen Vorzeichen und mit einer anderen Zielsetzung, womöglich eine Basis für dieses Vorgehen dar.
Die Frage der Performanz des antiken Dramas und im Besonderen der Tragödie verfolgen schließlich GOLDHILL/OSBORNE64 und die in ihrem Sammelband vertretenen Wissenschaftler weiter. Von gewisser Bedeutung für die vorliegenden Studien sind dabei die Ausführungen von HALL65 zur Darbietung lyrischer Partien durch die Schauspieler. Sie sieht in diesem Phänomen eine besondere soziologische Komponente,66 die eine zeitgeschichtliche Deutung der Gattung Tragödie und ihrer Formen herausfordert.67
In Auseinandersetzung mit Schlegels These vom Chor als idealisiertem Zuschauer68 versucht CALAME,69 das Wesen des tragischen Chors innerhalb eines komplexen theoretischen Rahmens zu bestimmen:
In those textual games played by word and action on gender and on the mask, in the many dimensions in which its voice plays a part, does the figure of the tragic choros coincide principally with the ideal spectator or with the actual spectator, with the virtual author, or, as performer, with the real author, or just with the figure of a (masked) actor engaged in a dramatic plot?70
In der Folgezeit haben die referierten theoretischen Ansätze zum Teil eine auf Sophokles bzw. einzelne Stücke konkretisierte Anwendung gefunden.71 KITZINGER wählt im Anschluss an die ausgeführten theoretischen Ansätze in ihrer Studie zu den Chören der Antigone und des Philoktet einen differenzierten und im Ganzen nachvollziehbaren Ausgangspunkt. Ihrer Untersuchung stellt sie dabei zwei Grundannahmen voraus: Während sie zunächst postuliert
that, in Sophokles, the words of the chorusʼ songs provide evidence for a consistent choral perspective, from play to play and from scene to scene within a play, however much the song is also integrated into the particular circumstances of the chorusʼ character and of the plot,72
stellt sie im Anschluss an BURTON und GOULD mit Nachdruck fest: „that the chorusʼ function cannot be understood by analogy with the actors“.73 Zwischen den Akteuren und dem Chor herrsche vielmehr „essential difference“,74 die weder die Beteiligung des Chorführers an den Sprechszenen noch das Vorhandensein gesungener, d.h. lyrischer Partien der Akteure aufhebe, sondern sich vor allem im Wechsel von Epeisodien und Stasima verwirkliche75 und Ausdruck einer unterschiedlichen Sicht auf die Welt darstelle.76 Ihr Interesse gilt dabei vor allem der Sprache der Chorpartien,77 in der sie – zusätzlich zu Musik, Gestik und Tanz – die Differenz zwischen Chor und Akteuren besonders realisiert sieht.
Den Versuch, die Gattung Tragödie, konkret den Oidipus auf Kolonos, dezidiert mit den Begriffen und Methoden der Narratologie zu interpretieren, unternimmt im Anschluss an GOWARD78 schließlich MARKANTONATOS.79 Unter den Gesichtspunkten der vorliegenden Arbeit lässt sich festhalten: MARKANTONATOSʼ feinsinnige Interpretationen einzelner Chorpassagen sind besonders gewinnbringend.80 Sowohl in der theoretischen Auseinandersetzung mit seinem Konzept einer „dramatischen Narratologie“ als auch bei der Analyse des Dramas selbst spielen dabei beispielsweise mit dem Tempo der „Erzählung“,81 der Frage nach der Lokalisation der „dramatisch erzählten“ Handlung82 und dergleichen gewisse Momente eine bedeutende Rolle, denen auch in der vorliegenden Arbeit besondere Aufmerksamkeit gilt. Einen übergeordneten, theoretischen Standpunkt zum Chor, etwa eine „Narratologie des Chors“ entwickelt er dabei (noch) nicht.
Zu einer konkreten Auseinandersetzung mit den einzelnen Dramen des Sophokles, ihrer Dramaturgie bzw. ihrer dramatischen Faktur kommt es bei den referierten, teilweise sehr theoretischen Ansätzen und Studien nur am Rande. Anders gesagt: Die Ablösung des dem Text verpflichteten werkästhetischen Standpunkts durch die vielfältig ausgestalteten performativen, soziokulturellen bzw. rezeptionsästhetischen Kategorien lässt eine vertiefte Fokussierung auf die Tragödie als dramatische Komposition geraten erscheinen. In derselben Weise glaube ich, die von GRUBER in Folge der „performativen Wende“ eingeforderte „Rekontextualisierung“83 der Tragödie um ein entscheidendes Moment erweitern zu können – schließlich ist auch die Wissenschaft nach der performativen Wende der Notwendigkeit nicht enthoben, nach den inneren Gesetzen einer Gattung, eines einzelnen Dramas zu fragen.
Während ferner mit der Studie von