Zugleich wertet der Verzicht auf eine chorlyrische Passage innerhalb der Exodos den vorangegangenen Kommos mit dem Protagonisten auf und verleiht ihm im Nachhinein besonderes Gewicht: Der expressive und ausgreifende Wechselgesang ist die letzte Chorpartie der Tragödie. Die abschließenden Verse 1469–1471 fallen demgegenüber kaum ins Gewicht. Das im Austausch mit Philoktet erreichte Maß an Emotionalität, Bühnenwirkung und Spannung wird gerade nicht durch eine erneute lyrische Partie beantwortet, sondern findet seine Fortsetzung und schließlich seine Auflösung im konkreten Handlungsgeschehen. Im Sinne des ökonomischen Einsatzes chorischer Partien und ihrer Binnenstruktur über die ganze Tragödie hinweg setzt Sophokles mit dem Kommos so den bewussten Schlusspunkt chorischer Beteiligung, der als motivischer und szenischer Kulminationspunkt unübertroffen, ja: unangetastet bleibt.
Auf die Schlussverse der Tragödie wurde mehrmals hingewiesen. Sie sind im besten Sinne konventionell zu nennen und zeugen doch von der besonderen Gestaltungsabsicht des Dichters. Beleuchten wir kurz ihre Einbindung in die Situation: Nachdem Philoktet die Stimme seines Freundes Herakles als solche erkannt hat (v. 1445ff.), bekundet er, den gegebenen Anweisungen Folge leisten zu wollen, d.h. sich nun nach Troia zu begeben und dort die Griechen bei der Eroberung der Stadt zu unterstützen. Dem schließt sich Neoptolemos in einer kurzen Bemerkung (v. 1448) an, worauf Herakles zu schnellem Handeln mahnt. Philoktet nimmt daraufhin in einem letzten Monolog (v. 1452–1468) von seiner Behausung und der Insel Lemnos Abschied und bittet um die Begünstigung der unmittelbar bevorstehenden Seefahrt. Die drei Verse des Chors rufen daraufhin zunächst zum gemeinsamen Aufbruch; betont schließen sich dabei die Choreuten selbst ein (χωρῶμεν) und leiten damit den Abgang des gesamten dramatischen Personals ein. Diesem Auszug vorausgehen bzw. ihn begleiten soll die Anrufung der Meernymphen, denen als „Retter“ (σωτῆρας) die Sorge um den günstigen Ausgang der Heimfahrt obliegt. Dieses chorische Echo der Aussagen des Protagonisten schließt die Tragödie.
Machen wir uns klar: Als einzige der überlieferten Tragödien unseres Autors schließt der Philoktet mit einer konkreten Handlungsanweisung, durch die der Chor seinen unmittelbar bevorstehenden oder schon eingeleiteten Abgang kommentiert. Die Konventionalität der Verse liegt dabei in ihrer kurzen, coda-artigen Prägnanz, die mit Verweis auf göttliche Mächte das Geschehen abzuschließen sucht. Ihren besonderen Reiz entfalten die scheinbar so beliebigen Verse durch ihre Positionierung am Ende der Szene und im Anschluss an Philoktets letzten Monolog. Dieser hatte sich dabei zum letzten Mal direkt an die ihn umgebende Natur, seine Wohnstatt und die Insel gewandt, wobei er das Ungemach seines Aufenthalts auf Lemnos in zwei kurzen Reminiszenzen aufleuchten ließ (die Erinnerung an das Tosen des Meers und den damit einhergehenden, Regen mit sich führenden Südwind v. 1455ff. sowie das Echo des eigenen Klagens v. 1458ff.). Die folgenden Anrufungen der Quellen (v. 1461), des „lykischen Tranks“2 (v. 1461) sowie der Insel Lemnos selbst (v. 1464) sind erneut ganz von der Hoffnung auf den bevorstehenden Aufbruch geprägt. Die Freude geht sogar so weit, den lemnischen Boden selbst aufzufordern: „Schicke mich zufrieden in glücklicher Fahrt!“ (v. 1465). Philoktet scheint sich an diesem Punkt nach der Einwirkung des Herakles mit der Insel geradezu versöhnt zu haben, die bald resignierende, bald aggressive Stimmung des Kommos hat sich hier am Ende der Tragödie aufgelöst.
Der Wechselgesang des Protagonisten mit dem Chor dient dabei der unmittelbaren Schlusspartie (v. 1452–1471) des Dramas als motivische Folie, auf der sich die schlagartig veränderte Stimmung wirkungsvoll abheben kann. An zwei Momenten lässt sich die Verwandtschaft der Szenen und die zu Grunde liegende Kompositionsabsicht aufzeigen: Die Anrufungen der unmittelbaren Umwelt als gliederndes und prägendes Moment bestimmen die Struktur beider Partien (vgl. v.a. die Ansprache der Behausung v. 1081ff. sowie v. 1453). Mit der Aussichtslosigkeit des Kommos, an Ort und Stelle bleiben zu müssen, kontrastiert hier die freudige Erwartung; aus dem verzweifelten Anruf des gewohnten Umfelds ist der hoffnungsvoll-versöhnte Abschiedsgruß geworden.
Die Ankündigungen des eiligen Abgangs reihen sich des Weiteren in die Kette der scheinbar unmittelbar bevorstehenden Abfahrten und Abtritte (so v. 461ff., v. 637, v. 1408), setzen allerdings durch die bewusste Selbstaufforderung des Chors im Besonderen die Motivik des Kommos (v. 1177ff.) fort. Hatte dort der Chor willig in die Bitte Philoktets, ihn zu verlassen, eingestimmt (ἴωμεν ἴωμεν v. 1179), um schließlich von ihm zurückgerufen zu werden, so kommen die Choreuten am Schluss der Tragödie erneut den Aufforderungen Philoktets nach. Diesmal allerdings setzen sie sich mitsamt den Akteuren in Bewegung und verlassen tatsächlich den Ort des Geschehens. Das in der lyrischen Partie virulente Spiel mit Abtritt und Bühnenpräsenz findet so am Schluss der Tragödie seinen natürlichen Zielpunkt.
Es ist demnach alles andere als Zufall oder reine Konvention, dass der Chor mit seinen Schlussversen auf den Monolog des Protagonisten antwortet: Mit dem chorischen Echo ist neben der Motivik sowohl die Gesprächssituation als auch die zielgerichtete Funktion des Kommos – wenn auch kurz – in Erinnerung gerufen und beantwortet. Der Anteil des Chors in dieser finalen Liminalszene der gesamten Tragödie ist dabei so gering wie möglich, erlaubt allerdings doch die Reminiszenz an die umfangreichste chorische Partie des Dramas.
Zusammenfassung
1. Mit Blick auf das erste der in der Einleitung entworfenen Spektren (Spektrum I: der tragische Chor als (kollektive) dramatis persona) lässt sich im Anschluss an die Einzelanalyse Folgendes festhalten: Wie auch im Aias ist der Chor der vorliegenden Tragödie hinsichtlich seiner Rollenidentität, d.h. als dramatis persona, wesentlich an einen Akteur, in diesem Fall an Neoptolemos gebunden. Als Subordinierte stehen die Choreuten dabei in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis zu ihrem Herrn, den sie in kritischen Situationen (vgl. erstes Epeisodion, im Besonderen v. 391ff.) vorbehaltlos unterstützen und dessen Position sie in Auseinandersetzungen (vgl. Kommos Philoktet-Chor v. 1081) vertreten.
Dem Austausch zwischen dem Chor und Neoptolemos kommt dabei innerhalb der Tragödie entscheidende Bedeutung zu: Bereits die in Form einer Unterweisungsszene gestaltete Parodos inszeniert die entsprechende Gesprächssituation als bedeutsamen Rahmen der chorischen Präsenz. Das (zumindest partielle) Wissen des Chors um die eigentlichen Absichten der auf Lemnos gelandeten Gesandtschaft des griechischen Heeres lässt den Chor dabei zum Mitintriganten werden und unterlegt den Austausch zwischen Neoptolemos und seiner Mannschaft zudem mit besonderer Brisanz. Die Gesprächssituation dient gerade in ihrer Reinszenierung im Anschluss an das „Schlaflied“ (v. 827ff.) zur Einblendung der virulenten Intrigensituation; in Abwesenheit des Odysseus übernimmt so die chorische Präsenz und ihre Einbindung in das Bühnengespräch die Funktion, die mit der Intrige gegebene doppelte Ebene im Bewusstsein zu halten.
Mit der Aufdeckung der Intrige durch Neoptolemos selbst (v. 895ff.) verliert daraufhin auch der Austausch zwischen dem Chor und seiner rollenimmanenten Bezugsperson an Relevanz: Der einzige lyrische Austausch des letzten Teils der Tragödie ist dementsprechend der Kommos zwischen Philoktet und dem Chor (v. 1081ff.). Die spärlichen iambischen Einwürfe des Chors (v. 963f., 1045f., 1072f. sowie die Auftrittsankündigung v. 1218ff.) nach der Aufdeckung der Intrigensituation sind dahingegen kaum mehr als zum Teil dramaturgisch klar funktionalisierte Äußerungen, die zum einen die Ratlosigkeit des Chors, zum anderen seine ungebrochene Ausrichtung auf Neoptolemos verbalisieren; einen inhaltlich bedeutsamen Beitrag zur Handlung leisten sie nicht. Während die chorische Präsenz so im ersten Teil der Tragödie (d.h. vom Ende des Prologs bis zur Aufdeckung der Intrige) die der Handlung zu Grunde liegende Intrigenkonstellation inszeniert und so mitten im Geschehen verankert ist, verschiebt sich ihre dramaturgische Funktion zum Ende der Tragödie: Statt am Handlungsfluss aktiv teilzuhaben und, wie im „Schlaflied“, den Gang der Ereignisse beeinflussen zu wollen, kommt dem Chor mehr und mehr eine betrachtende Position zu, während sich das eigentliche Geschehen zwischen den Akteuren Odysseus, Neoptolemos und Philoktet (in wechselnden Kombinationen) abspielt.
2.