Als ich Uttam von dem Phänomen der Fast Fashion erzählt hatte, und dass viele Europäer ein Shirt nur zweimal tragen, bevor sie es wegwerfen, entstand erst mal eine unangenehme Pause. Er guckte zu unserem Dolmetscher, der meine Erklärung ins Bengalische übersetzt hatte, als müsse er sich verhört haben. Der Dolmetscher wiederholte den Satz und nickte. Uttams Miene verdüsterte sich. Es fehlte nicht viel, und ihm wäre ein Batzen Reis aus der Hand gefallen. »Das kann ich nicht glauben«, murmelte er. »Aber wenn das wirklich so ist, macht es mich sehr traurig.«
Solche Momente hatte ich schon öfter erlebt: Der Stolz auf die eigene Arbeit, der selbst einen armen Kaffeepflücker im kolumbianischen Hinterland strahlen ließ, wenn man ihn fragte, ob er seinen Job mochte. Ich bin überzeugt, die meisten Menschen arbeiten gerne. Es erfüllt uns mit Sinn, unsere Lebenszeit in etwas zu investieren, das andere Menschen wertschätzen. In diesem Sinn hatte auch Uttam einen Berufsstolz. Und den hatte ich nun erschüttert. Vielleicht täusche ich mich, aber mir war so, als hätte er ab diesem Moment durchgehend eine kleine Sorgenfalte auf der Stirn gehabt.
Am Nachmittag luden wir die gefärbten Stoffbahnen in eine Schleuder, um die Flüssigkeit rauszukriegen. Danach schleppten wir sie in den vierten Stock, wo wir sie zum Trocknen auf Drahtseile hängten. Von dort warfen wir sie schließlich in den Hinterhof, zogen sie nacheinander über eine drei Meter hohe Röhre aus durchlöchertem Metall, aus der heiße Luft blies. So wurde der Stoff endgültig trocken und glatt.
Es war nach einundzwanzig Uhr und meine Schläfen pochten von den Dämpfen in der Fabrik. Selbst der Smog Kalkuttas, der uns draußen erwartete, erschien mir jetzt so erstrebenswert wie Tiroler Bergluft. Der Großteil der Fabrik war dunkel und still, als wir den Berg gewaschener und getrockneter Baumwolle vor einer Art monströsem Bügelbrett abluden. Im letzten Arbeitsschritt bügelte diese Mangel die Bahnen und drehte sie straff in fünfundzwanzig identische Rollen – das finale Produkt der Färberei. Am nächsten Morgen würde ein Fahrer sie abholen und an die Näherei liefern.
Während Uttam und ich die Mangel fütterten, versammelte sich eine Gruppe Arbeiter um uns. Ich kannte ein paar vom Mittagessen. Sie trugen frische Shirts, einige hatten nasse Haare und rochen nach Rasierwasser. Sie standen da und guckten amüsiert zu, wie ich mich abmühte.
»Was machen die hier?«, fragte ich Uttam.
»Sie haben Feierabend.«
»Warum gehen sie dann nicht nach Hause?«
Uttam guckte irritiert, als hätte ich einen Witz gemacht, den er nicht verstanden hatte. »Sie sind doch zu Hause. Sie wohnen hier.«
Jetzt wiederum guckte ich so, als hätte er gescherzt. Aber das hatte er natürlich nicht. War die Arbeit erledigt, duschten die Färber sich in einem Kabuff neben den Maschinen, gingen rauf in den dritten Stock und rollten dort auf dem Betonboden Schaumstoffmatten aus. Der böse Zwilling der umliegenden Wohnhäuser war tatsächlich ihre Unterkunft.
UNTER SANDRÄUBERN
Irgendwas stimmte nicht; das hatte ich von Anfang an gespürt. Die Boeing 737 der Royal Air Maroc war zehn Minuten vorher vom Münchner Flughafen gestartet. Jetzt erlosch, irgendwo über Rosenheim, mit einem Bing das Anschnallzeichen. Die Frau neben mir stand auf und zog eine dicke rote Fleecedecke aus dem Gepäckfach über uns. Überall in den Reihen vor und hinter mir ging das Sitzverstellen und Gemütlichmachen vor einem Nachtflug los. Nur die seltsame Gruppe Männer hinten in der Kabine rührte sich nicht.
Flug AT823 von München nach Casablanca war halb leer. Vor dem Einsteigen hatten wir eine halbe Stunde im Bus auf dem Rollfeld gewartet, während zwei Autos der Bundespolizei mit laufenden Motoren vor dem Flugzeug standen. Schließlich waren zwei Uniformierte aus der Maschine gestiegen und weggefahren. Als sich endlich die Bustüren öffneten, stieg ich die Treppe rauf und in den Flieger; als einer der Ersten. Dachte ich jedenfalls. Aber im Heck, bei den Toiletten, saß bereits regungslos diese Gruppe. Fünf schwarzhaarige Männer, hintereinander auf den Fensterplätzen, in sich versunken, als wären sie im Moment des Hinsetzens eingeschlafen. Und neben ihnen, auf den Plätzen am Gang, fünf kräftige Männer in Kurzarmhemden, die hellwach und etwas grimmig nach vorne guckten. Was war das für eine seltsame Truppe, in der niemand sprach, niemand lachte? Und warum verteilten sie sich nicht auf die vielen freien Reihen?
Ich löste den Gurt, stand auf und schwankte nach hinten. Das vorderste Kurzarmhemd blickte sofort misstrauisch auf. Ich lächelte, guckte suchend in Richtung Toilettentür und schob mich vorbei, während ich irgendwas brummte, das klingen sollte wie »Na, zum Glück ist gerade nicht besetzt, haha«. Aber der kurze Blick in die Sitzreihe hatte gereicht: Mir zog sich der Magen zusammen. Der Mann im Hemd trug Quarzhandschuhe; schwarz, mit Verstärkungen an den Knöcheln. Mit solchen Dingern kann man Unterkiefer brechen, ohne sich weh zu tun. Noch mehr erschreckt hatte mich aber der Blick auf den Platz daneben. Der schwarzhaarige Mann, der dort saß, weinte, während er stumm aus dem Fenster sah. Seine Arme waren mit Handschellen an die Lehnen gefesselt.
Ich saß in einem Abschiebeflug. Von diesen Flügen hört man sehr wenig, oft gibt es Protest. Aber die Flüge finden trotzdem statt. Auf wenig gebuchten, oft nächtlichen Verbindungen nach Lagos oder Tirana werden täglich Migranten »rückgeführt«, wie es offiziell so zivilisiert heißt, wenn Bundespolizisten mit Kampfhandschuhen Leute gegen deren Willen in ein Land bringen, mit dem Deutschland ein Abkommen hat.
2020 waren es insgesamt zehntausendachthundert Menschen; Albaner, Georgier, Serben, aber auch Afghanen, Syrer und Nigerianer. Hundertneununddreißig Menschen schob man nach Marokko ab. Was noch nicht heißen musste, dass die fünf gefesselten Männer in meinem Flieger auch von dort kamen. Marokko gilt als Transitland, das sich für viel Geld dazu verpflichtet hat, Flüchtlinge aus anderen afrikanischen Staaten von Deutschland zurückzunehmen. Was genau mit den Menschen geschieht, nachdem deutsche Polizisten sie dort ausgesetzt haben, weiß niemand genau. Und es interessiert auch niemanden so richtig.
»Wirtschaftsflüchtlinge«, wie man oft die Menschen nennt, die nicht vor Krieg, sondern vor Armut geflohen sind, haben keinen Anspruch auf Asyl. Damit gelten sie als Flüchtlinge mit Luxusproblem. Die Migrationspolitik blendet gerne aus, dass Millionen Menschen in weiten Teilen Afrikas auch ohne akuten Bürgerkrieg oder politische Verfolgung kaum in der Lage sind, die eigene Familie zu ernähren; dass längst auch Klima- und Umweltprobleme Menschen aus ihrer Heimat vertreiben; dass diese Probleme mitunter durch die globale, von Europa entscheidend mitbestimmte Wirtschaft verursacht und verstärkt werden. Es wird so getan, als hätten wir im Norden nichts damit zu tun.
TRADITIONELLE FISCHERBOOTE AUS BUNT BEMALTEM HOLZ LAGEN SCHIEF AUF HANDBALLGROSSEN VULKANSTEINEN, SCHWARZ UND HEISS WIE HERDPLATTEN. DIESE STRÄNDE WAREN TOT, ABGENAGT BIS AUF IHR SCHWARZES GERIPPE.
Auf dem Klo spritzte ich mir lauwarmes, nach Eisen riechendes Flugzeugwasser ins Gesicht. Was für ein zynischer Zufall: Fünf Menschen wurden ausgerechnet in dem Flugzeug gefesselt nach Afrika deportiert, in dem ich unterwegs war, um über eines der vielen Probleme zu berichten, wegen der Menschen Afrika verlassen. Ich schlief während des Fluges keine Sekunde. Ich war aufgewühlt.
Aber auch mein eigenes Thema beschäftigte mich. Das Ganze klang für mich immer noch unglaublich. Auf den Kapverden, einem der beliebtesten Strandparadiese der Welt, verschwanden die Strände. Weil sogenannte ladrões de areia, Sandräuber, sie illegal wegschaufelten. Warum um Himmels willen taten sie das? Und was passierte mit dem Sand?
Mit diesen Fragen im Kopf landete ich weit nach Mitternacht auf dem Aeroporto Internacional Nelson Mandela. Meine Kollegen Vanessa und Andi, mit denen ich eine Reportage über den Sandraub drehen würde, waren schon früher geflogen, mit der TAP-Verbindung über Lissabon, die bei Touristen beliebt ist und den Fluggästen den