Dieser Umstand und die Tatsache, dass uns die Wirtin, inzwischen etwas freundlicher geworden, ein zweites Fläschchen Pflaumenschnaps hergestellt hatte, bewog uns zur Einsicht, dass die Zeit der Spucknäpfe und der missbräuchlich verwendeten Badewannen nun endgültig vorbei war und irgendwann einmal auch dieses Land zur Normalität zurückfinden würde.
Die Seifenoper hinter Helges Rücken schien inzwischen beendet zu sein, denn mit einem Mal hörte ich die Stimme einer Sprecherin, und man sah auf dem Bildschirm marschierende Kolonnen mit geschulterten Spaten, wie sie sich daran machten, Straßen und Staumauern zu errichten, dazu Familien mit Kleinkindern, allesamt Menschen mit glücklichen Gesichtern, und jede Menge Sonnenauf- und -untergänge. Ich wandte mich ab, der Realität unserer Straße zu, auf der noch immer die kurzberockten Tibeterinnen schlenderten, als mir eine bekannte Melodie ins Ohr drang. Ich überlegte eine Weile und blickte wieder zum Fernseher: noch immer entschlossen marschierende Kolonnen, glückliche Kleinfamilien, Sonnenauf- und -untergänge … Ich begriff, dass es sich hier um eine Belangsendung der kommunistischen Partei Chinas handeln musste. Aber, wie seltsam, die Musik, mit der diese Sendung unterlegt war, stammte von Richard Wagner. Es erklang einer seiner größten Ohrwürmer, nämlich die Ouvertüre zu Rienzi (der letzte der Tribunen), die – oh, wie seltsam ist doch die Welt – die Lieblingsoper von Adolf Hitler gewesen ist.
So saßen wir und sahen die Sonne auf dem Bildschirm auf- und untergehen und die glücklichen, entschlossenen, jungen chinesischen Marschgesichter und all die Errungenschaften des kommunistischen Systems, und dazu die Sprecherin, die in markigen Worten und ebensolcher Körperhaltung (an der sich sogar die Fernsehsprecherin von Kim Il Sung ein Beispiel hätte nehmen können) etwas erklärte, dessen Sinn wir begriffen, ohne auch nur ein Wort zu verstehen. Und es war wirklich Rienzi von Wagner, was dazu im Hintergrund erklang, was aber hier, im kommunistischen China, wahrscheinlich niemandem bewusst war.
Wir schenkten uns noch einen Pflaumenschnaps ein und hielten die Köpfe schräg, um besser hören zu können. Ich selbst war ja nie ein Wagnerianer gewesen, aber diese Ouvertüre hatte schon sehr früh mein Herz erreicht. Wir betrachteten die am Bildschirm vorüberziehenden Inszenierungen, und ich dachte mir in der milden Wärme des Pflaumenschnapses, dass es doch in irgendeiner Zukunft, und mochte es Äonen dauern, über die Musik zu einer Art Weltfrieden kommen könnte. Dann, wenn nicht mehr der Herrschaftsanspruch von Parteibonzen, Oligarchen und Beamten von Belang wäre, sondern die Musik als Allmachtsgestalterin die Menschen verbände; wenn die Menschen wieder zu ihren allerersten Prägungen, der Sprache und eben der Musik, zurückgefunden hätten, ja die Musik den Weltenlauf bestimmen würde. Dann gehörten Bach und Mozart und Mendelsohn und gewiss auch Wagner wahrhaftig allen, und der Geist hätte von der Welt Besitz genommen, und nicht irgendwelche eigennützigen und rechthaberischen Interessen. So dachte ich mir beim nunmehr dritten Fläschchen Pflaumenschnaps. Und die Töne wären wie unsichtbare Fäden, die sich um die Welt rankten, und diese Fäden würde man dichter und dichter weben, so lange, bis eine Decke entstünde, die uns alle wärmte, von Wladiwostok bis Wisconsin, von Baffin Island bis Punta Arenas, von der Beringstraße bis Kap Komorin, vom Oval Office bis zu unserem kleinen Tischchen mit dem Pflaumenschnaps hier in Xangmu, im Schatten der großen Berge.
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