Nach einigen Rasttagen waren wir wieder einmal in unserer Eishöhle auf sechstausendsiebenhundert Metern angekommen. Wir saßen in der kraftlosen Abendsonne vor unserer Höhle und hatten fast nichts mehr zu essen. Mit knurrenden Mägen blickten wir in das Tal des Khali Gandaki hinunter. Da hörte ich mich selbst sagen: „Weißt du, was jetzt der Hammer wäre?“
„Nein“, sagte Wolfi.
„Ein Wienerschnitzel. In Butter gebraten.“
Wolfi entgegnete nichts.
Ich darauf: „Mit Kartoffelsalat. Und Preiselbeeren!“
Da fügte Wolfi hinzu (und machte sich damit in einem gewissen Sinne mitschuldig): „Und eine Flasche Weißwein dazu!“
Und auf einmal fing ich zu kauen an und hatte das Schnitzel und seinen Geschmack im Mund, und aus dem Augenwinkel sah ich, dass auch Wolfi andächtig kaute. Wir kauten und kauten, und es schmeckte uns vorzüglich. Die andächtige Stille wurde nur vom Kauen und dem Wind gestört. Doch auf einmal rief Wolfi ungehalten und ziemlich laut: „Aufhören. Sofort aufhören! Ich halt das nicht mehr aus!“
Ich stellte sofort das Kauen ein, und damit waren auch das Schnitzel und der Kartoffelsalat und der Weißwein Geschichte. Auch Wolfi hatte zu kauen aufgehört und saß nun schweigend neben mir.
Das sollte der einzige nicht harmonische Moment bleiben, den wir während unseres zehnwöchigen Unternehmens erlebten. (Wir Bergsteiger wissen ja alle, wie schnell in der Enge eines Zeltes Unmut entstehen kann. Ein Kletterer, mit dem ich Anfang der Achtzigerjahre zwei der schwierigsten Routen Tirols geklettert war, hatte, viel später, mit einem Franzosen in Tingri eine Woche lang ein Zimmer geteilt. Und er hatte diese eine Woche lang mit dem Franzosen nicht nur kein einziges Wort gewechselt, sondern ihn auch nicht einmal angeblickt. „Comme un chien“, hat der Franzose später berichtet, wie ein Hund hatte er sich dabei gefühlt.)
Wir blieben vor dem Zelt sitzen, bis es dunkel wurde, dann zog über dem Khali Gandaki ein Gewitter auf, und wir blickten aus fast siebentausend Metern hinunter, wie etwa viertausend Meter unter uns ein riesiger Feuervorhang das Khali Gandaki durchspannte. Es wirkte wie ein riesiger Theatervorhang, nach oben begrenzt, wie von einem Lineal gezogen und an einer Stange gehalten, und dieser Vorhang bestand aus Millionen, vielleicht Milliarden von Blitzen, die in ihrer Dichte wie eine undurchdringliche Wand erschienen. Diese Vorstellung währte weit mehr als eine Stunde. Uns schien es wie eine Ewigkeit, und wir konnten ihre ganze Pracht mit unseren von Sauerstoffmangel beschränkten Gehirnen gar nicht wirklich erfassen.
Die mächtige Südwand des Dhaulagiri bei Sonnenaufgang.
Am gleichen Abend erhielten wir noch einen Funkspruch von unseren Gefährten. Es war nichts mehr von einem „Den Zapfn reiß ma mit links nieda!“ zu hören. Vielmehr vernahmen wir, wie ein anderer, der uns immer beim Spuren vornehm den Vortritt überlassen hatte, sagte: „Der Berg mag uns nicht. Ich gebe auf!“
Nach über einstündiger Beratung entschlossen wir uns, es ihm nachzutun, und stiegen am nächsten Tag ins Basislager ab.
War die Ankunft dort vor acht Wochen eine Art Triumph gewesen, den wir uns in unserer Siegessicherheit als Vorschuss genehmigt hatten, ähnelte unsere Abreise nun eher einer Flucht. Einige von uns entschlossen sich, über den Dhampus-Pass nach Marpha ins Khali Gandaki abzusteigen, doch Wolfi, Friedl Mutschlechner und ich blieben dabei, die Anmarschroute auch für den Rückweg zu nehmen. Ich glaube, wir haben nie mehr in unserem Bergsteigerleben unsere Rucksäcke so schnell gepackt wie an diesem Tag. Ohne noch einen einzigen Blick auf den Berg zu verschwenden, rannten wir schnellen Schrittes das Tal hinaus.
Wir sollten die Route unseres dreizehntägigen Anmarsches in nur drei Tagen zurücklaufen. Das war ungeheuerlich, und vorsätzlich kann das wohl niemandem gelingen. Doch wir konnten es. Ich erinnere mich unseres Dauerlaufs durch die Schluchten und die dazwischen liegenden Dörfer, unserer unendlichen Müdigkeit und der Blutblasen an den Füßen von Friedl (einige Zeit später wurde er am Manaslu bei tiefblauem Himmel auf siebentausendfünfhundert Metern von einem Blitz erschlagen.) Wir schnitten seine Blutblasen mit meinem Taschenmesser auf, in den wenigen Minuten der Mittagspause, und ich wusste, dass Friedl eine wahnsinnige Angst hatte, als gescheiterter Bergsteiger (er galt seit vielen Jahren als einer der besten Höhenbergsteiger der Welt) wieder ein Installateur werden zu müssen, was er gelernter Weise war, und dass er alles, aber auch alles tun würde, um aus diesem Leben herauszukommen und Bergsteiger sein und bleiben zu dürfen. Und so schnitten wir ihm bei der nächsten Mittagsrast wieder seine Blutblasen auf, und alles war voller Blut, und wir rannten beinahe besinnungslos weiter, währenddessen wir uns niemals umdrehten, um unseren Berg auch nur ein einziges Mal noch anzusehen. Aber ich erinnere mich an das Pochen meines eigenen Herzens, das wie aus der Ferne kam, und an die Geräusche der Dörfer und ihre Gerüche, an das Saugen der Wasserpumpen, das entfernte Gebell der Hunde und an unsere Sehnsucht nach vertrauten Bildern und Menschen, die so weit entfernt waren, wie es zehntausend Kilometer nur sein können.
Biratnagar
Im Südosten Nepals, im Hügelland des Terai, knapp an der indischen Grenze, liegt die Stadt Biratnagar. Am westlichen Stadtrand verfügt Biratnagar über einen Flughafen. Dieser Flughafen ist wohl der einzige Grund, warum man als Bergsteiger diesen Ort aufsucht. Denn hier nehmen die Flugverbindungen zu den Hochgebirgsregionen im Osten von Nepal ihren Ausgang.
Von hier waren wir mittels einer kleinen, zweimotorigen Twin Otter nach Suketar geflogen, einer kleinen Siedlung auf zweitausendsiebenhundert Metern Höhe, die ein nicht asphaltiertes STOL-Flugfeld aufweist (Short Take Off and Landing). Wir umwanderten in einer Schleife von etwa dreihundert Kilometern in den nächsten drei Wochen das Kangchendzönga-Massiv, den dritthöchsten Berg der Erde, und Harald Riedl, der an einem bestimmten Tag uns weit vorauseilte, konnte dabei auf einer Lichtung sogar einen Roten Panda beobachten, in der freien Natur ein äußerst seltenes Schauspiel, weil es wahrscheinlich im gesamten Himalaya nur mehr dreihundert von ihnen gibt. Insgesamt war es eine eher verregnete Tour. Tausende von Blutegeln lauerten uns überall auf, und wir entfernten sie mit Messern, Salz oder Feuerzeugen von unseren Schuhen. Dennoch mussten wir an jedem Abend feststellen, dass es vereinzelte dieser Plagegeister durch die Ösen der Schuhe ins Innere geschafft hatten, sich dort drinnen an unseren Füßen satt tranken und dann fett und aufgeblasen zerplatzten. Abends, beim Herausschlüpfen aus den Schuhen, war dann immer ein Blutbad zu sehen, und weil man das Blut auch nicht mehr wirklich entfernen konnte, nahmen diese Schuhe nach einigen Wochen eine olfaktorische Note an, die bei jedem Aasfresser ein Glücksgefühl hervorrufen musste. Wir lagerten unsere Schuhe wohlweislich immer außerhalb unserer Zelte und erreichten nach besagten drei Wochen wieder wohlgemut den kleinen Flugplatz von Suketar, ohne von einem Tiger oder Bären in näheren Augenschein genommen worden zu sein.
Harald, Renate und ich waren die einzigen Touristen hier. In wenigen Minuten würden wir in das tropisch heiße Biratnagar auf nur siebzig Metern Meereshöhe fliegen. Plötzlich stupfte mich Harry in die Seite. „Da drüben liegt ein alter Mann“, sagte er. Ich konnte nicht sogleich etwas erkennen, weil eine Gruppe von zehn oder fünfzehn Menschen dicht gedrängt beieinander stand, doch nahm ich meinen Rucksack mit der Expeditionsapotheke und ging hinüber. Die Zuseher machten eine schmale Gasse frei, und wirklich lag ein alter Mann an der kleinen Böschung, die die Längsseite des Flugfeldes begrenzte. Er war ganz in Weiß gekleidet, und auch sein Haar und sein Bart waren weiß und sehr gepflegt. Sein gefurchtes, schmales Gesicht verriet große Schmerzen, und er wies mit seiner rechten Hand immer wieder auf seine Brust und seinen Hals. Er sagte, dass seine Speiseröhre brenne, und verlangte seltsamerweise nach Knoblauch. Ich konnte nur einen Herzinfarkt vermuten und legte ihm ein Nitrolingual unter die Zunge. Wenig später wirkte er entspannter, und da hörten wir auch schon die Twin Otter sich nähern und auf dem Flugfeld landen.
Die Maschine rollte aus und kam zum Halten, und wir halfen